Interview: Jörg Zink – Ich werde gerne alt

Christa, 11 août 2024

Orelie: Guten Tag, Herr Jörg Zink, Ich danke Ihnen, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir über das Altwerden sprechen wollen. Was können Sie als erstes zu diesem sagen?

Jörg Zink: Es ist nicht selbstverständlich, dass einer gerne alt wird, ich weiß. Die Kräfte nehmen ab. Die Sinne werden müde, Krankheiten kommen, Schmerzen. Die täglichen Dinge machen Mühe, das Gedächtnis täuscht. Die Tage werden kürzer, die Nächte länger. Die Freunde gehen. Die Eltern. Die Geschwister. Schwermut schleicht sich ein, Angst vor dem, was kommt. Man wird entbehrlich inmitten der Gedankenlosigkeit und Herablassung der jüngeren Leute. Man fühlt sich isoliert, fällt anderen zur Last. Der Körper wird unansehlich.

Jörg Zink, Ich werde gerne alt, Kreuz Verlag, Stuttgart, Zürich, 2001, S.10

Orelie: Das ist alles zu verstehen. Vor was haben Sie persönlich am meisten Angst?

Jörg Zink: Dass Schmerzen mich eines Tages um meine Selbstbeherrschung bringen, dass eine Krankheit mich nicht läutert, sondern zermürbt und zerstört, davor habe ich Angst. Dass eines Tages all das, was in meinem Leben misslungen ist, vor mir steht und nicht weggehen will.

Ibid, S.13

Orelie: So ist das Altern wirklich schwer.

Jörg Zink: Ich weiß, alt sein ist vielen Menschen zu schwer. Einsam vor sich hinleben, verlassen, hungernd nach einem Menschen, nach einer Berührung. Arm vielfach, Abgeschoben. Vergessen. Nutzlos.

Ibid.

Orelie: Sie haben Ihre Frau an Ihrer Seite.

Jörg Zink: Sie ist noch an meiner Seite und teilt meine Tage mit mir. So ist es keine Kunst, alt zu sein. Ich weiß. Es braucht nicht viel zu geschehen. Es muss nur gelten, was ein Leben lang gegolten hat, denn die Augenblicke des Verzagens werden kommen, in denen eins für das andere den Mut bewahren muss und das Vertrauen. In denen der eine dem anderen zuhört, ihm die Hand hält, ihn erinnert. Für ihn vor Gott bringt, was da zu sagen ist.

Ibid., S.17

Orelie: Um im Hinblick auf ihre Kinder, was möchten sie zu ihnen sagen?

Jörg Zink: Meine Kinder sind meine Kinder, solange ich lebe. Irrtum: Sie sind erwachsene Menschen. Oder: Ich muss ihnen sagen, dass ich mich sorge um ihre Zukunft. Irrtum: Begleiten wir sie, wenn sie es wollen, denken wir mit ihnen. Beten wir für sie und verdüstern ihnen nicht die Sonne.

Ibid., S.20

Orelie: Da Sie gerade von Irrtümern sprachen, bitte ich Sie eine Wahrheit zu nennen, die Bestand für sie hat.

Jörg Zink: Dass uns die späten Jahre von Gott zugedacht sind und wir sie füllen und genießen dürfen, solange wir die Kräfte haben. Denn wer genießbar bleiben will, muss genießen können. Eine strenge Lebensweise macht viele hart und scharf. Bei aller Mühe werden wir nicht erreichen, mit dem Willen Gottes eins zu sein. Aber einen Punkt gibt es: Wenn Gott uns einen schönen Tag gibt und wir ihn von Herzen genießen, erfüllen wir seinen Willen.

Ibid., S.22

Orelie: Können Sie noch weiteres zum Erlangen eines inneren Friedens hinzufügen?

Jörg Zink: Man kann durchaus leben, ohne alles wahrnehmen und beurteilen zu müssen. Wenn wir Dinge wahrnehmen, die uns stören, dann drücken wir eine Auge zu, wir haben ja zwei. Und wenn wir allein oder zu zweit auf der Bank vor dem Haus unserer Seele sitzen und die Erinnerungen aus- und eingehen: Gegen niemand einen Vorwurf festhalten. Niemand anklagen für vergangene Dinge. Von niemandem Dankbarkeit fordern. Allabendlich allen Streit beenden. Es ist wenig Zeit.

Ibid., S.24

Orelie: Was freut Sie, seitdem Sie im Ruhestand sind?

Jörg Zink: Ich brauche nur noch am Schreibtisch zu sitzen, wenn mich die unbändige Lust zu arbeiten überfüllt. Ich reise nicht mehr zu geschwätzigen Konferenzen. Ich brauche nichts zu werden, nichts zu erreichen. Niemand braucht mich gut zu finden. Ich brauche nicht zu beweisen, wie viel ich noch tauge, wie viel ich noch kann, wie groß meine Kräfte sind. Die kleinen Dinge werden es sein, die irgendwann Zeichen waren für Begegnungen und Erfahrungen. Ein Bild an der Wand. Ein Stein. Eine getrocknete Blüte. Ein Foto. Briefe vor allem, lesbare Morgen- und Mittagstage des Lebens.

Ibid., S.6,16

Orelie: Und wie begegnen Sie als gläubiger Christ dem nahenden Tod?

Jörg Zink: Glauben heißt ja: durch alles, was kompakt vor mir steht, hindurchschauen, als wäre es von Glas. In großen Augenblicken ist es mir geschehen, dass die Dinge durchscheinend wurden auf ein sehr fremdes Licht hin. Dass mir dieses Wissen bewahrt wird bis zum letzten Augenblick, dass die dunkle Wand des Todes sich auflösen wird in ein schimmerndes Licht, das erbitte ich mir. Ich werde gerne alt. Und ich danke Gott, dass er mir gegeben hat, in ihm zu sein ohne die Grenzen der Zeit. Immer weniger steht zwischen dem Leben und mir, dem ewigen, meine ich. Ich stehe dort, wo das Licht ahnbar wird hinter den Bergen dieser Erde.

Ibid., S.44,46

Orelie: Herr Jörg Zink, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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