Interview: Wolf-Dieter Zimmermann – Wir nannten ihn Bruder Bonhoeffer

Christa, 20 avril 2024

Orelie: Guten Tag, Herr Wolf-Dieter Zimmermann. Ich freue mich, dass Sie meine Einladung zu diesem Gespräch angenommen haben. Wir wollen über Ihre Begegnungen und Zusammenarbeit mit dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer sprechen. Hierbei ist Ihr Sommersemester an der Berliner Universität von großer Bedeutung. Warum?

Wolf-Dieter Zimmermann: In der Vorbereitung für meinen Studienplan 1932 war ich auf die Ankündigung einer Vorlesung gestoßen, die den Titel „Das Wesen der Kirche” trug. Angeboten wurde sie von einem unbekannten Privatdozenten. Ich ging mit einiger Skepsis zu der Vorlesung. Zuerst erschrak ich. Knapp 20 Personen saßen einzeln verstreut in den Bänken. Doch dann blieb ich – aus reiner Neugier. Und ich wurde sofort von einem jungen Mann gefesselt, der mit schnellen elastischen Schritten in den Raum kam. Bei seinen Worten wurde dann auch sofort deutlich, wie engagiert er war und wie stark ihn die Sache, die er vorzutragen hatte, fesselte.

Wolf-Dieter Zimmermann, Wir nannten ihn Bruder Bonhoeffer, Wichern Verlag, Berlin 2004, S.11-12

Orelie: Nach seinem zweiten theologischen Examen im Jahr 1930 war Bonhoeffer ein Jahr lang am Union Theological Seminary in New York gewesen. Er besuchte auch Gottesdienste in East Harlem, wo die Rassentrennung an der Tagesordnung war. Hat er Ihnen davon berichtet?

Wolf-Dieter Zimmermann: East Harlem, ein Slum mit unvorstellbarer Armut und Verkommenheit, aber auch mit einer großen menschlichen Sehnsucht und Bereitschaft zur Hingabe. Bonhoeffer hatte die Familien kennengelernt, war in ihren Wohnungen gewesen und hatte die Not dieser Menschen erlebt. Hier hatte er im Gegensatz zu den weißen Kirchen, wie er sagte, „echten Glauben” gefunden. Es schien, als habe er hier gesehen, wie lebendige Kirche sein könnte.

Ibid, S.37

Orelie: Wie empfand er selbst diese Gottesdienste?

Wolf-Dieter Zimmermann: Er war fasziniert von der emotionalen Beteiligung aller Gemeindeglieder am Gottesdienst. Er – der kühle, beherrschte, rational bestimmte Mann – empfand diese Form des Feierns als befreiend. Er akzeptierte die Kraft und Hingabe, der er hier begegnet war, dieses völlige Losgelöstsein von der belastenden Gegenwart. Er hat mitgelitten und wollte für diese Ausgestoßenen nun in Europa ein Fürsprecher sein. Doch hat er nie versucht, diesen Kultus direkt zu übernehmen. Das war gewachsene Gläubigkeit, unverwechselbar und unlösbar von den Menschen, die darin lebten. Er selbst – das wusste er – konnte dabei sein, konnte aber keiner von ihnen werden.

Ibid., S.37,38

Orelie: Die Reichstagswahl am 5. März 1933 gewann die NSDAP mit 43,9 % der abgegebenen Stimmen. Am 23. März beschloss der neue Reichstag das Ermächtigungsgesetz, nach dem die Regierung ohne Zustimmung des Reichstags und des Reichsrats sowie ohne Zustimmung des Reichspräsidenten Gesetze erlassen konnte. Am 1. April kam es zum Boykott jüdischer Geschäfte. Gab es auch Maßnahmen gegen die evangelische Kirche?

Wolf-Dieter Zimmermann: Am 25. April wird der Wehrkreispfarrer Ludwig Müller von Hitler zum „Bevollmächtigten für die Angelegenheiten der evangelischen Kirche” ernannt. Im April wurde deutlich, dass es eine neue innerkirchliche Gruppierung gab, die sich „Deutsche Christen” nannte und offensichtlich mit staatlicher Unterstützung agierte. Im scharfen Gegensatz zu ihnen stand die Oppositionsgruppe – damals Jungreformatorische Bewegung genannt; aus ihr ist 1934 die Bekennende Kirche hervorgegangen. Für den 23. Juli waren Kirchenwahlen angesetzt. Die Nazis mobilisierten alle ihre Anhänger dafür und setzten weithin auch Gemeindeglieder unter Druck, die sich dem Trend nicht fügen wollten. Diese neuen Strömungen waren bis in die Universität vorgedrungen. Es wurde schnell eine NS-Studentengruppe gebildet; neben ihnen auch ein deutsch-christlicher Interessenkreis. Als dann das Sommersemester begonnen hatte, führten wir intensive Gespräche mit Bonhoeffer, um herauszufinden, was unsere Aufgabe sein könnte. Das Bekenntnis – also die Glaubensgrundlage der Kirche – drohte durch die NS-Ideologie verfälscht oder ersetzt zu werden. Als sich bei der Kirchenwahl herausstellte, dass die Deutschen Christen fast überall in Preußen die Mehrheit errungen hatten, wurde uns klar: Jetzt beginnt für uns eine gefährliche Zeit, wir sind nur noch eine kleine Minderheit.

Ibid., S.41-43

Orelie: Dennoch kamen zu Bonhoeffers Sommervorlesung über „Christologie” etwa 300 Zuhörer, was ein Erfolg war. Welche Erklärung gibt es hierfür und was war der außergewöhnliche Ansatz in Bonhoeffers Christologie?

Wolf-Dieter Zimmermann: Inzwischen war für viele Studenten erkennbar geworden, dass Bonhoeffer und sein Kreis nicht auf die Nazi-Ideologie eingeschwenkt waren. Bonhoeffer hüllte sich in Schweigen darüber, wie er das Problem Christologie lösen würde. Mit Spannung wartete ich auf den Augenblick, wo sich das zeigen sollte. Es geschah mit dem Satz: „Die Person interpretiert das Werk” (und nicht umgekehrt); eben weil Jesus der Gottmensch ist, darum kommt seinem Lebenswerk besondere Bedeutung zu. Das Werk an sich (Leiden und Kreuz) ist mehrdeutig. Viele solcher Schicksale hat es damals gegeben. Erst weil hier Gott selbst in Menschengestalt sich opfert, darum erhält dieser Vorgang seine einmalige Bedeutung. Der ganze geschichtliche Jesus mit seinem Sein und seinem Tun ist die Rettungstat Gottes selbst.” Das Neue für mich: Ich hatte im Studium gelernt, dass das Werk Jesu seine Göttlichkeit „beweise”. Jetzt begriff ich zum ersten Mal, dass die „Garantie” für die Besonderheit Jesu nicht in seiner „Leistung”, sondern in seinem Wesen als „Gottmensch” lag. Das war die neue Perspektive.

Ibid., S.39

Orelie: Bald darauf musste Dietrich Bonhoeffer damit rechnen, seiner Lehrtätigkeit enthoben zu werden. Deshalb wollte er in London, eine deutsche Auslandsgemeinde übernehmen. Es wurde ihm erlaubt, aber unter welcher Bedingung?”

Wolf-Dieter Zimmermann: Bonhoeffer durfte das Amt in London antreten, jedoch nicht als Pfarrer der Deutschen Evangelischen Kirche, sondern als gewählter Pfarrer zweier Londoner Gemeinden.”

Ibid., S.46

Orelie: Im März 1934 wurde von der Reichskirchenregierung das Theologische Examen neu bestimmt und es durfte nur unter Vorlage des Ariernachweises absolviert werden. Aus diesem Grund beschloss die nun bestehende Bekennende Kirche eigene Predigerseminare einzurichten, die von der offiziellen Kirche nicht anerkannt wurden. Dietrich Bonhoeffer erhielt Ende des Jahrs 1934 von der Bekennenden Kirche den Auftrag ein Predigerseminar zu leiten. Was können Sie hierzu berichten?

Wolf-Dieter Zimmermann: Die Seminararbeit war im Frühjahr in Zingst an der Ostsee begonnen worden, musste jedoch bald nach Finkenwalde, in der Nähe von Stettin, verlegt werden. Die Abgeschiedenheit in dem kleinen Dorf bedrückte uns in keiner Weise. Wir alle hatten in dem Haus Pflichten zu erfüllen, also mitzuhelfen bei der Erledigung der alltäglichen Aufgaben. Die straffe Ordnung des Tagesablaufs hat uns zuerst stark belastet. Die sonnabendliche Abendandacht war immer etwas Besonderes. Da sprach Bonhoeffer über die vergangene Woche, da mahnte er und gab Weisungen für unser Verhalten, da wurde sozusagen reiner Tisch gemacht. Für das Predigerseminar kam das Ende am 28. September 1937. Der Himmler-Erlass vom 29. August 1937 bot die Grundlage dafür; in ihm war der Bekennenden Kirche jede Form von theologischer Aus- und Weiterbildung verboten worden. Die Gestapo erschien in dem fast leeren Haus und versiegelte es.

Ibid., S.61-63,66-67,80

Orelie: Anfang Juni 1939 fuhr Dietrich Bonhoeffer nach New York, nachdem er für ein Jahr von der Bekennenden Kirche beurlaubt worden war. Er sollte sich in dieser Stadt der deutschen Emigranten annehmen. Aber schon am 7. Juli kam er zurück nach Deutschland. Was waren seine Gründe für diese Entscheidung?

Wolf-Dieter Zimmermann: Als ich ihn kurz nach seiner Rückkehr in Berlin traf, war ich verwundert. Ich hatte fest mit seinem Fernbleiben gerechnet. Er erläuterte mir seinen Entschluss so: Seine Glaubwürdigkeit als Lehrer der Theologie wäre zerstört worden, wenn er sich in die Sicherheit gerettet hätte. Alles von ihm Gesagte und Geschriebene hätte seine Qualität verloren, wenn er sich jetzt aus der Konfrontation mit der Realität herausgehalten hätte. Der Christ darf nicht vor der aufkommenden Gefahr fliehen, er darf seinen Bruder nicht im Stich lassen, sondern muss – wie Christus – das irdische Leben ganz auskosten. Nur so ist Christus bei ihm.

Ibid., S.93

Orelie: Um eine Einberufung Bonhoeffers zur Wehrmacht zu verhindern, nahm sein Schwager Hans von Dohnanyi ihn im Juni 1940 in das Abwehramt von Admiral Wilhelm Canaris auf. Dort erfuhr er von dem Plan, einen Putsch gegen Hitler zu organisieren. Dietrich Bonhoeffer wurde am 5. April 1943 verhaftet. Warum war seine Lage nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 besonders gefährlich?

Wolf-Dieter Zimmermann: Am 22. September 1944 wurde im Zossener Hauptquartier der Wehrmacht in einem Panzerschrank das „Geheim-Archiv” der Verschwörer gefunden. Damit waren präzise Unterlagen über die Vorbereitung eines Putsches sowie über den Inhalt einiger Seiten aus dem Tagebuch von Canaris vorhanden. Diese Beweise änderten die Lage der Verhafteten und Angeklagten grundlegend. Mit ihrer Ermordung musste gerechnet werden.

Ibid., S.105

Orelie: Kommen wir auf Maria von Wedemeyer zu sprechen, mit der sich Dietrich Bonhoeffer am 17. Januar 1943 verlobt hatte. Sie war achtzehn Jahre jünger als er und eine Enkelin von Ruth von Kleist-Retzow, bei der Bonhoeffer oft zu Besuch war. Wie beurteilte er sein Verhältnis mit Maria nach seiner Verhaftung?

Wolf-Dieter Zimmermann: Wie Bonhoeffer selbst reagierte, zeigt ein Brief vom 15. Dezember 1943: „Nun sind wir fast ein Jahr verlobt und haben uns noch nie eine Stunde allein gesehen. Ist das nicht ein Wahnsinn? Alles, was sonst zur Verlobungszeit gehört, das Sinnlich-Erotische, müssen wir bewusst verdrängen… Wir sitzen alle Monate eine Stunde brav wie auf der Schulbank nebeneinander und werden wieder auseinandergerissen. Wir wissen so gut wie nichts voneinander, haben nichts miteinander erlebt.”

Ibid., S.107

Orelie: Und können Sie auch aus einem Brief von Maria von Wedemeyer zitieren, um zu erfahren, wie sie mit dieser Situation umging?

Wolf-Dieter Zimmermann: Dietrich ermutigte mich, die praktische Seite unserer gemeinsamen Zukunft zu planen. Es half ihm, sich ein bestimmtes Möbelstück in unserer zukünftigen Wohnung vorzustellen oder einen Spaziergang durch die Felder, eine vertraute Stelle am Ufer… Er war fest davon überzeugt – übrigens zu Recht – der bessere Koch zu sein. Einmal wöchentlich gaben wir Bücher, Wäsche und Lebensmittel für ihn im Gefängnis ab und nahmen wieder mit, was er uns zurückgab.”

Ibid., S.107

Orelie: Am 8. Oktober 1944 wurde Dietrich Bonhoeffer in das SS-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin verlegt. Können Sie den weiteren Verlauf schildern?

Wolf-Dieter Zimmermann: Die Zeit im SS-Gefängnis endet am 7. Februar 1945. Die Gefangenen werden nach Buchenwald bei Weimar gebracht. Am 3. April geht es weiter in einem geschlossenen Lastwagen nach Weiden und Regensburg. Dann Weiterfahrt nach Schönberg im Bayerischen Wald. Am Sonntag, 8. April wird Bonhoeffer ausgesondert und nach Flossenbürg gefahren. Am frühen Morgen des 9. April 1945 wurde der Hof vor der Baracke in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Gegen 6 Uhr erschallte zum ersten Mal der Ruf „Mitkommen”. Danach war das schlurfende Geräusch nackter Füße auf dem steinernen Fußboden zu hören. Dann der Ruf: „Alles ausziehen!” Bonhoeffer konnte noch kurz in einem Nebenraum knien und beten. Danach mussten die Männer völlig nackt eine Stiege besteigen, ihnen wurde der Strick um den Hals gelegt, die Stiege wurde weggezogen. Hinter dem Zellenbau wurden die Leichen später verbrannt. Bonhoeffers letzter geschriebener Satz lautet: „Ich sterbe als stummer Zeuge Christi unter seinen Brüdern.”

Ibid., S.110

Orelie: Herr Wolf-Dieter Zimmermann, ich danke Ihnen für dieses Gespräch

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