Orelie: Guten Tag, Herr Bernhard Welte. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir der Frage nach Gott in der säkularisierten Welt nachgehen werden. Sie haben hierzu ein Denkexperiment entwickelt. Was wollen Sie als erstes zu diesem sagen?
Bernhard Welte: Das Experiment soll in folgenden Schritten vorgeführt werden: Ich möchte Sie zuerst auf drei auch in einer säkularisierten Welt kaum zu leugnende Tatsachen aufmerksam machen. Nur die erste der drei Tatsachen ist deutlich zu sehen, die anderen sind schwieriger wahrzunehmen
Bernhard Welte, Ein Experiment zur Frage nach Gott, in: Gott in dieser Zeit, C. H. Beck Verlag, München 1972, S.37-38
Orelie: Welches ist diese erste deutlich erkennbare Tatsache?
Bernhard Welte: Wir sollten als erstes die Tatsache ins Auge fassen, dass wir da sind inmitten anderer Menschen, inmitten der Gesellschaft, inmitten unserer Welt. Dasein auf der Welt, das ist wohl unleugbar und ist wohl auch unabhängig davon, ob wir unser Dasein als ein säkularisiertes oder wie immer charakterisieren wollen. Jedenfalls: wir sind da in unserer Welt. Solche Worte haben einen realen Sinn.
Ibid, S.38
Orelie: Können Sie nun auf die zweite Tatsache zu sprechen kommen?
Bernhard Welte: Wir Daseiende und Lebende in unserer Gesellschaft und in unserer Welt, wir wissen, dass wir einmal nicht da waren und dass wir einmal nicht mehr da sein werden. Es gibt inmitten unseres lebendigen Daseins also ein Wissen und also wohl auch eine Erfahrung davon, dass es einstmals und künftig so etwas wie Nichtdasein gab und geben wird. Auch dies hängt nicht vom säkularen oder auch nichtsäkularen Daseinsverständnis ab.
Ibid, S.38
Orelie: Können Sie darauf näher eingehen?
Bernhard Welte: Wir wissen vom Nichtdasein, vom Nichts. Wir könnten nicht davon wissen, wenn es uns nicht auf irgendeine Weise zur Gegebenheit oder zur Erfahrung käme. Kommt uns das Nichtsein zur Erfahrung, etwa angesichts des Todes eines Verwandten oder eines Freundes, dann bedeutet dies: Nichtdasein ist zwar zunächst etwas Negatives, aber die Tatsache, dass man es spürt ist etwas Positives. Es besagt etwas, es bedeutet etwas, dass Menschen einmal nicht mehr da sind. Die Negativität hat diese positive Seite.
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Ibid., S.39
Orelie: Können wir trotz dieser positiven Seite nichtsdestoweniger das Negative, das Nichts sehen?
Bernhard Welte: Freilich müssen wir hier auf einige Umstände achtgeben. Es ist grundlegend zu sehen, dass Nichts im Sinne von erfahrbarem Nicht-Dasein eine zweiwertige Erfahrung ist. Das Nichts kann entweder so interpretiert werden: hier ist überhaupt nichts. Es kann aber auch so interpretiert werden: hier ist etwas Verborgenes. Ein einfaches Modell kann diese ambivalente Situation deutlich zeigen. Wer in ein ganz verfinstertes Zimmer eintritt, der kann sagen, ich sehe nichts. Aber dieser Ausdruck kann etwas Doppeltes bedeuten. Er kann bedeuten: hier ist nichts. Er kann auch bedeuten: hier ist etwas, aber ich sehe es nicht; hier ist etwas verborgen.
Ibid., S.39-40
Orelie: Verweilen wir weiter bei dem Nichtdasein, das als das Nichts erfahren wird.
Bernhard Welte: Das Nichts hat etwas an sich, das uns veranlasst, nicht oder nicht gerne daran zu denken, und allerhand Immunisierungsstrategien zu gebrauchen. Daher fliehen wir beständig vor ihm, etwa in die Geschäftigkeit positiven Denkens. Um nämlich bloss noch dieses Positive, dass wir da sind und es mit wichtigen Dingen zu tun haben, zu sehen. Oder wir decken das Dunkel des kommenden Nichtdaseins mit Entwürfen und Utopien des künftigen und wie wir hoffen besseren Daseins gleichsam zu. Oder: wenn auf das Nichts, etwa auf das Nichts des Todes hingewiesen wird, so neutralisieren wir diese Tatsache gerne im Bewusstsein, nämlich zu einem Vorkommnis unter anderen. Oder noch eine andere Möglichkeit: wir diffamieren bisweilen die Beschäftigung mit dem drohenden Nichtdasein, etwa als Flucht vor den Aufgaben des Tages, als unnütze Beschäftigung. Es gibt viele solcher Immunisierungsstrategien.
Ibid.,S.41
Orelie: Was denken Sie über diese Immunisierungsstrategien?
Bernhard Welte: Vertieft man sich solchermaßen gegen den Strom und Trend in dieses Nichts, das kommt und droht, dann kann man weiteres daran sehen, weitere und erstaunlichere Dinge, wenn auch auf gewisse Weise selbstverständliche Dinge. Das Nichts hat kein Ende. Was ins Nichtdasein gesunken ist, kehrt niemals wieder. Das Niemals geht niemals zu Ende. Wir werden viel länger nicht dasein, als wir da sind. Wer dieses ungeheure und ohne Maß Größere spürt, der wundert sich darüber, dass es Menschen so gleichgültig lassen kann.
Ibid., S.42
Orelie: Ja, man kann das Nichtdasein auf irgend eine Art und Weise außer Acht lassen, aber irgendwann wird es eintreffen und man wird mit ihm zu tun haben.
Bernhard Welte: Freilich können wir die Augen davor schließen; aber es kommt, und es verschlingt alles Dasein und es behält alles Dasein und dies für immer. Das Nichts ist in seiner Unausweichlichkeit das Einzige, was allem Dasein, aller Macht des Daseins gegenüber wirklich das Übermächtige ist. Erinnern wir uns nun daran, dass das Nichtdasein als Erfahrung immer doppeldeutig ist. Es ist zunächst und immer noch nicht entschieden, ob es ein leeres Nichts ist oder Verbergung. Von hier aus wenden wir uns nun zurück zu unserem Dasein, aber nun zu einem ganz besonderen und eigentümlichen Moment in unserem Dasein. Wir wollen es das Moment des Sinnpostulates nennen. Auch dies scheint mir eine unleugbare, wenn auch de facto oft geleugnete Tatsache zu sein, auf die wir nun aufmerksam machen müssen: es sei die Tatsache Numero 3.
Ibid., S.43-44
Orelie: Tatsache Numero 1: Wir sind da, Tatsache Numero 2:Wir waren einmal nicht da und wir werden einmal nicht mehr da sein. Und so bitte ich Sie, Herr Bernhard Welte, nun auch auf die dritte Tatsache näher einzugehen.
Bernhard Welte: Die Frage: was hat dies für einen Sinn? Oder stellt man sie radikaler, so darf sie lauten: „Was hat dieses, dass ich da bin überhaupt einen Sinn?” Oder allgemeiner formuliert: „Was hat dieses, dass wir – Menschheit als Gesellschaft und Geschichte – da sind, was hat dies überhaupt für einen Sinn?” Diese Frage stellt sich und sie stellt sich eigentlich immer. Wir sind freilich nicht immer darauf aufmerksam.
Ibid., S.44
Orelie: Aber es gibt doch Menschen, die sagen, dass alles keinen Sinn hat. Was können Sie ihnen antworten?
Bernhard Welte: Es gibt gewiss die Erscheinung, dass ein Mensch dazukommt zu sagen: es habe doch alles keinen Sinn. Dass ein Mensch dazukommt, eine letzte Sinnlosigkeit des Daseins anzunehmen und angesichts ihrer zu leben und zu sterben. Aber dazu muss man bei allem Respekt vor einer solchen Haltung doch bemerken: Kein Mensch könnte sich dazu entschließen, wenn er nicht eben darin einen Sinn erkennen würde. Das heißt aber: selbst der Entschluss der Verneinung des Sinnes setzt das Sinnpostulat voraus.
Ibid., S.44
Orelie: Bleiben wir nun bei den drei Tatsachen und der Konsequenz, die man daraus ziehen kann.
Bernhard Welte: Wenn alles unausweichlich vom endlosen Nichts verschlungen wird, dann muss gesagt werden: es hat eigentlich alles keinen Sinn. Wenn alles einmal und dann endlos nichts sein wird, kann man dann noch den Unterschied zwischen gut und böse ernstlich aufrechterhalten. Wenn alles einmal und dann endlos nichts sein wird, kann dann noch der Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Freiheit und Knechtschaft wirklich aufrechterhalten werden? Wenn das Böse wie das Gute schließlich zum alten Eisen des Nichts geworfen werden, unterschiedslos, und dort liegenbleiben, hat es dann wirklich einen Sinn, sich zu engagieren, für die Wahrheit und Gerechtigkeit eher als für die Lüge und für die Ungerechtigkeit? Das Nichts, als nichtiges Nichts verstanden und ernstlich ins Auge gefasst, stellt allen Sinn gründlich in Frage. Vor dieser Konsequenz ist nicht auszuweichen.
Ibid., S.45-46
Orelie: Und welches ist die Konsequenz, wenn das Sinnpostulat aufrechterhalten bleibt?
Bernhard Welte: Es muss gesagt werden: es hat alles Sinn. Dies muss in Form eines ethischen Postulates ausgesprochen werden. Das wird freilich nur erkennbar, wenn konkrete Formen des mitmenschlichen Lebens in Betracht gezogen werden. Wenn wir die unglücklichen Menschen in dieser Welt sehen; die unschuldig Leidenden; wenn wir die Ungerechtigkeit in dieser Welt sehen, darf dann gedacht werden: dies sei gleichgültig, denn es laufe am Ende doch auf dasselbe hinaus, auf nichts nämlich? Stellt man die Frage so konkret, und sie muss, wie mir scheint, konkret gestellt werden, dann ist es einsichtig, dass auf Sinn nicht verzichtet werden darf. Man darf nicht denken: es sei gleichgültig, gut oder böse zu sein, gerecht oder ungerecht. Man darf nicht denken: das Leiden der Unschuldigen laufe auf dasselbe – nämlich auf nichts – hinaus wie das jener Menschen, die dieses Leiden verursachten.
Ibid, S.46Orelie: Und was heißt das konkret für jeden einzelnen Menschen?
Bernhard Welte: Das Nichts muss anders interpretiert werden. Dann erlaubt diese ethische Grundentscheidung, die man mit dem Satz aussprechen kann: es hat alles Sinn, die Zweideutigkeit der Erfahrung des Nichts zu entscheiden, die Zweideutigkeit, die von der bloßen Erfahrung des Nichts her nicht entscheidbar ist. Sinnvoll ist Dasein, so müssen wir dann sagen, wenn das Nichts in seiner Unendlichkeit in seiner unentrinnbaren Macht kein leeres Nichts ist, vielmehr Verbergung oder verborgene Anwesenheit der unendlichen und unbedingten und allem sinngebenden und verwahrenden Macht.”
Ibid., S.47