Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Helmut Kohl – Die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland

Orelie: Guten Tag, Herr Helmut Kohl. Es freut mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir über die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland sprechen wollen, deren Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft trat. Was können Sie hierzu sagen?

Helmut Kohl: Ich war als Neunzehnjähriger geradezu begeistert, als die neue Verfassung in Kraft trat. Wie viele in meiner Generation, die noch den Zweiten Weltkrieg bewusst miterlebt hatten, spürte ich: Das wird unsere Republik. Bei aller Euphorie, mussten wir jedoch zur Kenntnis nehmen, dass die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes unseren Landsleuten in der Sowjetischen Besatzungszone und im Ostsektor Berlins versagt blieb. Ausdrücklich hoben die Mütter und Väter des Grundgesetzes hervor, dass man auch für jene Deutsche gehandelt habe, denen mitzuwirken versagt sei. Am Ende der Präambel standen die Worte, die Auftrag und Vermächtnis bedeuteten: „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.”

Helmut Kohl, Erinnerungen 1930-1982, Amazon kindle, S.70-71

Orelie: Am 14. August 1949 fanden die Wahlen zum ersten deutschen Bundestag statt. Wie haben Sie diese als Mitglied der Jungen Union erlebt?

Helmut Kohl: In meinem Leben habe ich unzählige Wahlversammlungen bestritten. Meine allererste Wahlkampfrede hielt ich am 12. August 1949, am Freitag vor der ersten Bundestagswahl. Die Union stieg bei der Wahl zwei Tage danach mit 31 Prozent zur stärksten politischen Kraft auf, vor der SPD mit 29,2 Punkten. Unsere neue Partei, erst vier Jahre zuvor aus den Trümmern des Krieges heraus gegründet, konnte mit Konrad Adenauer den ersten Bundeskanzler stellen. Damals regierte Adenauer mit einer Koalition von CDU, CSU, FDP und der deutschen Partei (DP).

Ibid, S.73–74

Orelie: Wie beurteilten Sie Konrad Adenauer?

Helmut Kohl: Ab 1953 eröffnete die Union ihre Bundestagswahlkämpfe stets in der Dortmunder Westfalenhalle. Dabei konnte ich zum ersten Mal auch Konrad Adenauer erleben, den Präsidenten des Parlamentarischen Rats. Mit seinen bereits dreiundsiebzig Jahren erschien mir Adenauer einfach als zu alt.

Ibid., S.71

Orelie: Im September 1950 gehörten Sie einer Delegation an, die von dem französischen Außenminister Robert Schuman in Paris empfangen wurde. Was wollen Sie hierzu sagen?

Helmut Kohl: Es waren Politiker wie der Lothringer Schuman, die die Grenzen in den Köpfen und Herzen der Menschen in Europa zu öffnen halfen. Wenige Monate zuvor, im Mai, hatte er den nach ihm benannten Plan für eine Kohle- und Stahlunion vorgelegt, die den Kern der 1957 durch die Römischen Verträge von sechs Staaten gebildeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ausmachen sollte. Für mich war es ein Ereignis, 1950, während der Phase des europäischen Aufbruchs, einer imponierenden Persönlichkeit wie Robert Schuman zu begegnen, den ich sehr verehrte. Geboren in Luxemburg, deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg, nach 1918 französischer Abgeordneter, hat der fromme Katholik das Schicksal eines Grenzland-Europäers durchlebt. Er war 1941/42 in Neustadt in der Pfalz interniert, bevor er fliehen konnte und sich in Frankreich der Résistance anschloss. Immer wieder habe ich später das Grab Robert Schumans in Chazelles bei Metz besucht.

Ibid.,S.74-75

Orelie: Wie sehen Sie Ihre Partei gegen Mitte bis Ende der fünfziger Jahre?

Helmut Kohl: Die CDU erschien uns in jenen fünfziger Jahren allzu routiniert, verbürgerlicht und autoritär verkrustet. Der CDU fehlte eine größere, aktive Mitgliederschaft und die Lebendigkeit der Parteiflügel. Häufiger stellte ich auf Parteiversammlungen eine provokante Frage: Haben wir noch die Vitalität der Gründerzeit der Union, den Elan und die Dynamik der Jahre 1945, 1946, 1947?

Ibid., S.90

Orelie: Wie beurteilten Sie als junger Mensch und als Katholik im CDU Landesverband der Pfalz die Stellung Ihrer Partei zur katholischen Kirche?

Helmut Kohl: Im Kampf der Parteiströmungen wandte ich mich vor allem gegen den katholischen Integralismus, der das Ziel verfolgte, alle Lebensbereiche nach kirchlichen Maßstäben zu gestalten. Ich legte mich mit einigen hohen katholischen Würdenträgern an und verbat mir energisch jede klerikale Einmischung in die Nominierung von CDU-Kandidaten. Während ich mit Teilen des kirchlichen Establishments auf Kriegsfuß lebte, pflegte ich andererseits ein sehr gutes Verhältnis zu den jüngeren, sozialpolitisch engagierten Pfarrern um Karl Mentz, den Subregens des Priesterseminars in Speyer und des Priestervereins der Pfalz.

Ibid., S.90

Orelie: Welches Ereignis begeisterte die Menschen am stärksten in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland?

Helmut Kohl: Das größte Gemeinschaftserlebnis für die Deutschen in West und Ost war die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz, als der Kapitän und Spielmacher Fritz Walter unsere Nationalelf im Endspiel zum 3:2-Sieg über Ungarn führte. Fritz Walter war Kopf und Herz einer einzigartigen Mannschaft. Diese Elf hat viel für das Ansehen Deutschlands in der Welt getan. Der legendäre Nationaltrainer Sepp Herberger war der Chef, wie ihn seine Spieler nannten, der es verstand, die Einzelspieler zu motivieren und eine Mannschaft aus ihnen zu formen. Überall in Deutschland spielten sich nach dem Abpfiff unbeschreibliche Szenen der Freude ab.

Ibid., S.91-93

Orelie: Ein Jahr später hielt Konrad Adenauer sich in Moskau auf. Mit welchem freudigen Ergebnis kam er zurück?

Helmut Kohl: Die spektakuläre Reise von Bundeskanzler Adenauer nach Moskau im September 1955 und die anschließende, alle tief bewegende Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion markierten das Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Eindrücke von diesem Ereignis waren ganz ungeheuerlich. Damals begann ja gerade das Fernsehzeitalter. Ich weiß noch genau, wie in den Fachgeschäften der Ludwigshafener Hauptstraße ganze Batterien von TV-Geräten in den Schaufenstern aufgebaut waren. Auf den Schirmen lief pausenlos das Bild mit einem Nachrichtensprecher, der verkündete, wer nun endlich aus Russland und Sibirien heimkehrte. Die Menschen standen gebannt vor den Läden; oft waren es Angehörige, die hofften, dass jemand, von dem sie seit Jahren nichts mehr gehört hatten, bei den Spätrückkehrern sein möge.

Ibid., S.93

Orelie: Aber die Zusage Konrad Adenauers, das Saarland unter europäische Verwaltung zu stellen, lehnten Sie entschieden ab.

Helmut Kohl: So sehr ich als CDU-Nachwuchspolitiker den außen- und innenpolitischen Kurs des Bundeskanzlers befürwortete, so überzeugt ich seiner Europapolitik folgte, so entschieden wandten meine pfälzischen Parteifreunde und ich uns in der Saarfrage gegen die Adenauer-Linie. Eine klare Mehrheit der Saarländer lehnte im Oktober 1955 das Europäische Statut ab. Die Menschen entschieden sich damit zugleich für eine Eingliederung in die staatliche Gemeinschaft der Deutschen. Als die Saarländer mit einer überwältigenden Mehrheit den Sonderstatus ablehnten, vertrauten sie auch auf die Achtung der Prinzipien von Demokratie und Selbstbestimmung durch unsere französischen Nachbarn. Wenige Tage nach der Abstimmung erklärte sich Paris bereit, über die Modalitäten der Rückgabe zu verhandeln. Das Ergebnis lautete, dass das Saarland am 1. Januar 1957 als neues Bundesland der Bundesrepublik Deutschland beitrat. Die leidenschaftlichen Debatten um die Lösung des Saarproblems sind heute längst Vergangenheit. Aber die Tatsache, dass eine Lösung gefunden wurde, die auf keiner der beiden Seiten Bitterkeit zurückließ, ist in eine feste und dauerhafte Freundschaft zwischen dem deutschen und dem französischen Volk eingegangen.

Ibid., S.96-97

Orelie: Kommen wir auf den Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 zu sprechen.

Helmut Kohl: Der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus in Berlin, war für mich ebenso wie für viele andere Menschen in Deutschland ein Tag der Hoffnungslosigkeit und der tiefgreifenden Veränderung im geteilten Deutschland. Die Reaktion des Bundeskanzlers auf den Beginn des Mauerbaus bleibt mir bis heute unverständlich. Dass sich Konrad Adenauer nicht unmittelbar nach den ersten Meldungen über das ungeheuerliche Vorgehen des Ost-Berliner SED-Regimes in die geteilte Stadt aufmachte, werde ich niemals nachvollziehen können. Willy Brandt, der damals Regierender Bürgermeister von Berlin war, tat das, was in einer solchen Situation von einem führenden Politiker erwartet wird: Er war sofort zur Stelle, sprach zu den geschockten Berlinern, rief zur Besonnenheit auf und appellierte an die Vernunft und an die Verantwortung der Großmächte. Adenauer beging den Fehler, derweil seine Wahlkampagne fortzusetzen. Er reagierte viel zu spät öffentlich auf die dramatischen und folgenschweren Ereignisse in Berlin. Die Quittung ließ nicht lange auf sich warten. Wenige Wochen nach Vollendung des schändlichsten Bauwerks der Welt fanden Bundestagswahlen statt. Am 17. September 1961 verloren die Unionsparteien ihre bisherige absolute Mehrheit.

Ibid., S.134

Orelie: Was wollen Sie abschließend zu den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland noch sagen?

Helmut Kohl: In der Deutschlandpolitik setzte ich auf Kontinuität zu meinen Vorgängern, wobei der Kernpunkt für mich die Besinnung auf die deutsche Geschichte war. Zwar konnte die Einheit nicht erzwungen werden, aber dennoch durfte dieses Ziel niemals aufgegeben werden. Nicht umsonst hieß es in der Präambel des Grundgesetzes und im Brief zur deutschen Einheit vom 12. August 1970, dass das gesamte deutsche Volk aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung die Einheit Deutschlands zu vollenden.
Ibid., S.87

Orelie: Herr Helmut Kohl, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.