Interview: Rut Brandt – Lebenserinnerungen

Christa, 15 septembre 2023

Orelie: Guten Tag, Frau Rut Brandt. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir über Persönliches aus Ihrem Leben sprechen wollen. Sie wurden am 10. Januar 1920 im norwegischen Hamar geboren. Können Sie Bedeutendes aus Ihrer Kindheit erzählen?

Rut Brandt: An Vater erinnere ich mich durch Mutter. Er starb an einem schweren und grauen Oktobertag, als ich drei Jahre alt war. Er war Chauffeur und Kutscher auf Atlungstad, einem Gut mit Feldern, knapp zehn Kilometer südlich von Hamar. Für Mutter musste die Zukunft düster ausgesehen haben, als er starb. Da saß sie, Mitte dreißig, mit vier Kindern zwischen sieben und eins, ohne Arbeit, ohne soziale Absicherung. Aber Mutter hatte Glück. Ihr Bruder war Werkmeister in der Milchfabrik und er verschaffte ihr dort Areit.

Rut Brandt, Freundesland, Econ Taschenbuch Verlag,Düsseldorf, 1996, S.28-29

Orelie: Wie haben Sie, obwohl Sie noch sehr jung waren, Ihren Vater in Erinnerung?

Rut Brandt: Die Erinnerung an ihn durch Mutter ließ ihn für mich nicht lebendig werden; er war unwirklich, fremd und ohne Makel. Nur wenn Mutter über seine Krankheit erzählte – er starb an Tuberkulose –, wurde er zu Fleisch und Blut. Von seinen Leiden seiner Krankheit und ihrer Trauer über seinen Tod zu hören, konnte ich nicht ertragen.

Ibid, S.32

Orelie: Sie haben eine angenehme Erinnerung an die Sonntage, die Sie zusammen mit Ihren drei Geschwistern und Ihrer Mutter verbringen konnten.

Rut Brandt: Sonntag war ein guter Tag. Mutter war zu Hause und verbreitete Wohlbehagen. Wenn der Sonnenschein über den frisch gescheuerten Küchenboden schien, wenn der Frühstückstisch festlich gedeckt war mit Eiern und Ansjovis, Dauerwurst und Presswurst, Käse und Marmelade auf selbstgebackenem Brot. Am Sonntagnachmittag konnte es geschehen, dass wir eingeladen wurden, um die Kindersendung im Radio zu hören. Wir saßen da mit großen Augen und Kopfhörern an den Ohren und lauschten den Märchen, die sie uns fernab in Oslo erzählten.

Ibid., S.34

Orelie: Als Jugendliche traten Sie der Arbeiterbewegung bei. Während der deutschen Besatzung, die im Frühjahr 1940 begann, beteiligten Sie sich an der Herstellung und Verteilung verbotener Zeitungen. Im Sommer 1942 hielten Sie und Ihre Schwester Tulla, nachdem Sie von der Gestapo verhört worden waren, es für ratsam, in das freie Schweden zu kommen, was ihnen beiden gelang. Können Sie etwas über diesen beschwerlichen und gefährlichen Weg mitteilen?

Rut Brandt: Es fing an zu nieseln, und wir mussten uns bewegen, um nicht zu frieren. Wir gingen in die Richtung, die wir für Osten hielten, und endlich sahen wir einen Streifen am Horizont, einen dunklen Streifen. Das konnte nichts anderes sein als Bäume, und dann würden wir Wasser finden, und wir würden in Schweden ankommen. Dann würden wir Essen und etwas Warmes zu trinken bekommen. Wir würden unsere Kleider trocknen und unsere Füße pflegen können, die voller Blasen waren. Und dann würden wir schlafen. Wir stolperten den Pfad entlang, hielten uns an Zweigen fest, um nicht auszurutschen. Plötzlich standen wir vor einer kleinen Feldscheune. Wir waren durchnässt und müde. Wir stießen die Tür auf, nahmen unsere Schlafsäcke und krochen hinein, ohne uns auszuziehen. „Nur fünf Kilometer bis zur Grenze.” Wir waren fünfzehn Stunden gelaufen.

Ibid., S.21-22

Orelie: In Schweden trafen Sie Ihren langjährigen Freund Ole Olstadt Bergaust wieder, der auch dem norwegischen Widerstand angehörte. Sie heirateten im Herbst 1942. Doch Ole, den Sie Brum nannten, litt an Tuberkulose und starb Weihnachten 1946. Er hat also die Befreiung Norwegens noch erlebt. Was können Sie zu diesen bewegenden Tagen im Mai 1945 sagen?

Rut Brandt: Die Lokale waren überfüllt. Aber allen wurde noch ein Platz freigemacht. Heute waren wir Brüder, Schweden, Dänen und Norweger. Immer wieder die norwegische, dänische und schwedische Nationalhymne. Viele fühlten den Drang, eine Rede zu halten. Die Gefühle explodierten. Die Freude war überwältigend und grenzenlos. Der Friede war ausgebrochen.

Ibid., S.88

Orelie: Kommen wir auf Willy Brandt zu sprechen, den Sie in Schweden kennenlernten und sie beide verliebten sich ineinander. Für das Jahr 1947 erhielt Willy Brandt eine Stelle als Presseattaché in Berlin, die er annahm. Im Frühjahr 1947 folgten Sie ihm in diese Stadt, in der sie nun zu den Besatzern gehörten. Wie empfanden Sie diesen Umstand?

Rut Brandt: An uns war nichts Militärisches bis auf die Uniform. Aber die machte den Unterschied. Sie zeigte, wozu wir gehörten. Wir waren Besatzer, und wir sollten auf jede Art von der deutschen Bevölkerung getrennt werden. Wir lebten in beschlagnahmten Häusern mit beschlagnahmten Möbeln und schliefen in beschlagnahmten Betten. Die Verpflegung wurde von auswärts importiert: Wir aßen in alliierten Restaurants, kauften in alliierten Geschäften, zahlten mit alliiertem Militärgeld und gingen in alliierte Kinos und Clubs.

Ibid., S.109-110

Orelie: Am 4. September 1948 heirateten Sie und Willy Brandt und sie wurden von dem Feldpfarrer der norwegischen Staatskirche getraut. Warum?

Rut Brandt: Wir waren ja beide norwegische Staatsbürger. Willy wurde kurze Zeit später in Kiel wieder eingebürgert, und seinen Decknamen Willy Brandt bekam er dann vom Polizeipräsidenten in Berlin zugeeignet. Aber mich machte die Ehe nicht automatisch zur deutschen Staatsbürgerin. Der deutsche Staat existierte 1948 noch nicht. Am Anfang der fünfziger Jahre beantragte ich die deutsche Staatsbürgerschaft und verlor dabei meine norwegische.

Ibid., S.139-140

Orelie: Was änderte sich nach dem Mauerbau im August 1961, noch dazu Ihr Mann im Jahr 1957 Regierender Bürgermeister der Stadt geworden war?

Rut Brandt: Die Mauer wuchs vom Stacheldrahtverhau zu einer um ganz West-Berlin gezogenen, hohen Gefängnismauer. Ihre massive Brutalität wurde die Ursache für viele menschliche Tragödien. In der ersten Zeit gelang es manchen zu flüchten. Sie sprangen aus Fenstern, die an die Westsektoren grenzten. Sie durchschwammen Flüsse und Kanäle. Aber die Fenster wurden zugemauert und die Schlupflöcher gestopft. Es gab verzweifelte Versuche durchzubrechen, mit Lastwagen und sogar mit einer Lokomotive, oder einfach über die Mauer zu klettern und durch den Kugelregen zu laufen. Einigen glückte es, andere kamen zu Tode. Längs der Mauer, auf ihrer Westseite, lagen Kränze und Blumen als Erinnerung an diejenigen, die es nicht geschafft hatten. Junge Menschen, meist Studenten, gruben Tunnel von West nach Ost und lotsten Fluchtwillige hindurch, bis der Weg entdeckt wurde. Berlin war um eine widerliche Attraktion bereichert worden. Touristen und Schulklassen kamen zuhauf und betrachteten die Mauer mit Verwunderung und Grauen. Wurstbuden schossen aus dem Boden, und die mauernahen Kneipen gingen gut. Ausländische Staatsmänner und Politiker führten wir auf einen Aussichtsturm, der sofort errichtet worden war. Dort standen wir mit Ferngläsern und sahen den Volkspolizisten in die Augen, die auf der anderen Seite auf den Wachtürmen mit ihren Feldstechern standen.

Ibid., S.180-181

Orelie: Nachdem Willy Brandt Ende 1966 Außenminister geworden war, zogen Sie in die Bundeshauptstadt Bonn um. Wie waren Ihre Gefühle?

Rut Brandt: Zu meiner Verwunderung entdeckte ich bald, dass ich mich in Bonn wohl fühlte. Natürlich fehlten mir Berlin und Peter, der dort lebte, und die Freunde, Theater und Konzerte. Aber ich flog dann einfach für einen oder zwei Tage hinüber. Ostern fuhr ich mit Matthias nach Norwegen. Es war ein herrliches neues Freiheitsgefühl, den Wagen vollpacken zu können, ohne zu fürchten, dass man Sachen dabei hätte, die vor den Augen der Volkspolizisten keine Gnade finden würden. Das konnte ja etwas so Harmloses wie eine Westzeitung sein.

Ibid., S.241-242

Orelie: Ihre beiden ersten Kinder, Peter und Lars, den sie Lasse nannten, kamen 1948 und 1951 auf die Welt. Matthias wurde zehn Jahre später geboren. Wie Sie schon sagten blieb Peter in Berlin, weil er nur ein Jahr bis zum Abitur hatte. Und wie sah es für ihre zwei anderen Söhne aus?

Rut Brandt: Lasse mussten wir überreden und ihm versprechen, dass er jeden Monat nach Berlin reisen dürfe, um seine Freunde zu besuchen. Eine Zeitlang tat er das, dann wurde es seltener. Er fand in der Schule neue Freunde und fühlte sich in seinen beiden kleinen Dachstuben in Bonn schließlich sehr wohl. Matthias hatte einige Monate die deutsch-amerikanische Schule in Dahlem besucht. Für ihn gab es keine Probleme; vielleicht empfand er es als ein wenig spannend. Für den Fünfjährigen war es doch das Beste, bei der Mutti zu sein.

Ibid., S.236-237

Orelie: Frau Rut Brandt, kommen wir nun auf die Affäre Günter Guillaume zu sprechen, die Willy Brandt, der am 1969 Bundeskanzler geworden war, dazu verurteilte, als Kanzler zurückzutreten.

Rut Brandt: Im Radio wurde gemeldet, dass der persönliche Referent Willy Brandts, Günter Guillaume, wegen Spionage für die DDR verhaftet worden war. Guillaume ein Spion? Das war fast zum Lachen. Willy kam am 24. April aus Nordafrika zurück und hörte erst auf dem Flughafen von der Verhaftung Guillaumes. Den ganzen Tag saß er in Sitzungen und ebenso an den folgenden Tagen, so dass er keine Zeit hatte mit mir darüber zu sprechen. Er sagte, am Wochenende des 4. und 5. Mai würde er fortbleiben, um in Münstereifel an einer Besprechung teilzunehmen. Am Montag, 6. Mai, kam er in mein Zimmer und sagte: „Ich werde heute zurücktreten.” Ich war nicht erstaunt und sagte: „Das finde ich richtig. Einer muss die Verantwortung auf sich nehmen.” Willy war vielleicht erleichtert, dass er zurückgetreten war, aber er verwand es nie.

Ibid., S.350-353,359

Orelie: Frau Rut Brandt, nach 33 Jahren wurden Sie und Willy Brandt geschieden. Wollen Sie darüber etwas mitteilen?

Rut Brandt: Ich meinte, es sei besser, sich scheiden zu lassen. Es schien, als habe er das nicht erwartet – er stand auf und ging. Am nächsten Tag zeigte mir Willy eine feierliche Erklärung, die an die Presse gehen sollte: „Willy Brandt und seine Frau sind übereingekommen, die rechtlichen Schritte für eine Auflösung ihrer Ehe einvernehmlich einzuleiten.” Die erste Zeit ging ich überall hin, wo ich aus Freundlichkeit oder Mitleid eingeladen worden war, auch wenn ich deutlich gemacht hatte, dass so etwas nicht nötig sei. Ich ging zum Tanz in Botschaften, ich ging zu Abendessen, und ich ging zum Damenlunch. Am 16. Dezember 1980 wurden wir geschieden. Es war verabredet, dass wir mit unseren Anwälten hinterher bei Lasse ein Glas Wein trinken sollten. Jeder von uns erzählte eine lustige Episode, als ob wir uns vorbereitet hätten. Wir lachten und waren freundlich. Aber wir erwähnten nicht die 33 Jahre, die wir zusammen gelebt hatten. Es waren die wichtigsten Jahre unseres Lebens, voll von Gutem und weniger Gutem. Wir hatten zusammen drei Kinder und eine Karriere erlebt, die für Willy wie für mich etwas Großartiges gewesen war. Und das musste doch trotz allem eine Grundlage für eine Freundschaft bilden. Aber es sollte meine letzte Begegnung mit Willy Brandt sein.

Ibid., S.373,381,382-383

Orelie: Möchten Sie abschließend noch etwas sagen?

Rut Brandt: Ich denke daran, dass ich – „die Norwegerin” – das Werden des neuen Deutschlands erlebt habe. Ich bekam meinen ersten Jungen während der Berlin-Blockade, als Deutschland geteilt wurde, und meinen letzten als die Mauer errichtet wurde. Ich habe den Weg der Bundesrepublik von der ersten Stunde an verfolgt und mich all dem nahe gefühlt, was geschah und Form annahm. Ich sah die Mauer fallen und schämte mich nicht meiner Tränen. Jetzt wird die Teilung Geschichte, und ich sehe den Kreis sich schließen – nicht ohne Skepsis.

Ibid.,S.398-399

Orelie: Frau Rut Brandt, ich danke Ihnen für dieses Gespräch

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