Interview: Williams – Mitteilungen über seine Oma

Christa, 14 mai 2015

Orelie: Guten Tag, Herr Tennessee Williams. Ich freue mich sehr, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem Ihre Großmutter mütterlicherseits, der Sie viel Liebe und auch Dankbarkeit entgegenbrachten, im Mittelpunkt stehen soll. Mit welcher Erfahrung möchten Sie beginnen?

Tennessee Williams: Meine ersten acht Lebensjahre in Mississippi waren die unschuldig-fröhlichste, von keinerlei Anfechtungen belastete Zeit meines Lebens, dank des äußerst harmonischen Familienlebens meiner geliebten Großeltern Dakin, bei denen wir wohnten.

Tennessee Williams, Memoiren, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, September 1979, S.24

Orelie: Ihre Großmutter hat Ihnen in Ihrem Leben immer wieder geholfen. Können Sie davon berichten?

Tennessee Williams: Als ich im Frühherbst 1929 bereits im Begriff stand, zum College aufzubrechen, war plötzlich kein Geld für die Studiengebühren vorhanden; wenn Grand nicht gewesen wäre, die mir buchstäblich im letzten Augenblick mit tausend Dollar aushalf, hätte ich aufs Studium verzichten müssen. Das war nur eine von vielen Gelegenheiten in meinem Leben, bei denen Grand und Großvater Dakin Ruhe und Ordnung in mein für gewöhnlich chaotisches Dasein brachten oder es ihnen zu verdanken war, wenn es mir gelang, irgend etwas zustande zu bringen – teils wegen der zufriedenen Atmosphäre, die sie um sich verbreiteten, teils wegen ihrer fast magischen Kräfte, trotz beschränkter Mittel anderen finanziell unter die Arme zu greifen.

Memoiren, S.40

Orelie: Ihr Großvater war Lehrer, bevor er diesen Beruf aufgab und Pfarrer wurde. Wie stand Ihre Großmutter zu seinem Entschluss und änderte sich daraufhin etwas in ihrem Leben?

Tennessee Williams: Als sie meinen Großvater heiratete, hatte sie nicht damit gerechnet, dass er eines Tages das geistliche Amt wählen würde. Er war Lehrer mit Leib und Seele, und bald nach ihrer Hochzeit wurde er Leiter einer privaten Mädchenschule in Ost-Tennessee, an der meine Großmutter Musik unterrichtete. Einmal hatte sie nicht weniger als fünfzig Violin- und Klavierschüler zugleich. Ihrer beider Einkommen machte sie für damalige Begriffe ziemlich wohlhabend. Doch plötzlich eröffnete er ihr, er habe sich entschlossen, in den Kirchendienst einzutreten, und von da an bis zu ihrem Ende verlernte meine Großmutter, was ein Leben ohne Entbehrungen ist. Während dieser langen Zeitspanne sollte der charmant-selbstsüchtige Herr Pfarrer mit Damen der Episkopalischen Kirche durch Europa reisen, sich mit den feinsten kirchlichen Gewändern aus New York und London ausstaffieren, im Sommer nach Chautauqua gehen und in Sewanee an Kursen teilnehmen; während meine Großmutter unterdessen ihre Zähne einbüßte, weil sie den Zahnarzt sparte, ihre Brillen bei Woolworth kaufte, noch als Sechzigjährige Kleider trug, die aus den Überresten ihres Brautstaats gefertigt waren, und alle Krankheiten ignorierte, um Arztkosten zu vermeiden.

Tennesse Williams, Glasporträt eines Mädchens, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1988, S.148

Orelie: Um ihre einzige Tochter, Ihre Mutter, sowie ihre drei Enkel in St Louis zu besuchen, scheute sie jedoch keine Kosten.

Tennessee Williams: Sie kam immer mit einer beträchtlichen Summe Geldes, die sie in ihr Korsett eingenäht hatte. Meine Großmutter hat niemals wirklich ein Korsett gebraucht, und warum sie eins trug, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, wieviel Geld es war, aber wahrscheinlich doch einige hundert Dollar – wobei man wissen muss, dass das Gehalt meines Großvaters niemals hundertfünfzig Dollar monatlich überschritt.

Glasportät eines Mädchens, S.149

Orelie: Welche Erinnerung haben Sie an die Besuche Ihrer Großmutter?

Tennessee Williams: Ihr Besuch bedeutete Fünfcentstücke für Eis, Vierteldollars für Kino, Picknicks im Forest Park. Es bedeutete das weiche und fröhliche Lachen, ein richtiges Mädchenlachen zwischen unserer Mutter und ihrer Mutter, Stimmen, die ganze Tonleiter hinauf und hinab wie Fingerübungen auf dem Klavier. Es bedeutete die Rückkehr der Anmut aus dem Exil im Süden, es bedeutete die Versöhnung des Lebenszorns meines verzweifelnden Vaters mit einer Welt, die er, der Unglückliche, nie seinen Kindern weitervermitteln konnte, außer wenn die Gegenwart meiner Großmutter in der winzig kleinen Stadtwohnung eine seltsam unirdische Friedensstimmung über alle brachte, die darin eingepfercht waren.

Glasporträt eines Mädchens, S.149

Orelie: Gab es etwas, vor dem Ihre Großmutter Angst hatte?

Tennesse Williams: Was meine Großmutter am allermeisten fürchtete, war das Gefühl der Abhängigkeit, das so viele alternde Menschen bedrückt. Deshalb bestand sie selbst dann noch auf ihrer eigenen Wohnung in Memphis, als sie körperlich schon längst nicht mehr in der Lage war, den Haushalt zu bewältigen, und gab sie erst wenige Monate vor ihrem Tod auf, um nach St. Louis zu ziehen.

Glasporträt eines Mädchens, S.152

Orelie: Ein paar Jahre zuvor lebten Sie bei Ihren Großeltern. Wollen Sie davon berichten?

Tennessee Williams: Einige Jahre vorher, als sie und Großvater in Memphis von dessen monatlicher Rente von 85 Dollar lebten, suchte ich wieder einmal Zuflucht bei ihnen, nachdem ich in meiner Stellung bei einer Schuhfabrik in St. Louis einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Sobald ich zu reisen in der Lage war, schlüpfte ich in ihrem winzigen Häuschen in Memphis unter und schlief auf dem Feldbett im Wohnzimmer. In jenem Sommer war ich dem Wahnsinn näher als jemals zuvor seit den wilden Stürmen meiner frühesten Jugend; aber genau wie bei früheren Krisen holte mich die eigentümlich friedenspendende Gegenwart meiner Großmutter langsam wieder in eine leidliche Seelenverfassung zurück. Und als der Herbst kam, begab ich mich auf den langen steilen Pfad des Schriftstellers, diese verzweiflungs- und hindernisreiche Kletterpartie, die mich erschöpft, aber immer noch atmend, zum angeblich so sonnigen Plateau von „Ruhm und Erfolg” führte. Das begann in jenem Sommer 1934 in Memphis.

Glasporträt eines Mädchens, S.152-153

Orelie: Wie erlebten Sie den Tod Ihrer Großmutter?

Tennessee Williams: Von meiner Mutter erhielt ich einen Brief, in dem sie mir mitteilte, meine Großmutter sei bedenklich erkrankt, infolge eines lange verschleppten Leidens, das nun ihre Leber und ihre Lungen angegriffen habe und ihr nur noch eine kurze Lebensspanne übriglasse. Ich fuhr nach Hause. Es war eine Woche vor Weihnachten, an der Tür hing ein Adventskranz, und nebenan spielte das Radio „White Christmas”, als ich meine zwei Koffer die Vordertreppe hinaufschleppte. Meine Großmutter öffnete auf mein Klopfen, ich erinnere mich, wie sie lachte, wie ein schüchternes Mädchen, das beim Anblick der Fotografie ihres Geliebten von Gefühlen übermannt wird. Und als ich sie umarmte, fühlte ich mit Schrecken nichts als den Stoff ihres Kleides und durch das Kleid hindurch ihre fieberheißen Arme. Sie starb ungefähr zwei Wochen später, nach einer trügerischen, allein von ihrem Willen erzwungenen Periode scheinbarer Besserung.

Glasporträt eines Mädchens, S.155-156

Orelie: Herr Williams, bedauern Sie irgendetwas, wenn Sie Ihre Grandma in Ihrer Erinnerung zurückrufen?

Tennessee Williams: Ich glaube, was ich am tiefsten in meinem Leben bedauere, ist nicht etwas, das mich selbst betrifft, nicht einmal der Misserfolg eines meiner Werke oder ein etwaiges Nachlassen der Schöpferkraft. Es ist die Tatsache, dass meine Großmutter nur ein Jahr vor dem Zeitpunkt starb, an dem ich ihr etwas von dem hätte zurückgeben können, was sie mir gegeben hatte, irgend etwas Materielles als bescheidenen Dank für das unermessliche seelische Geschenk, das sie mir unentwegt und selbstlos in die Hände legte, wenn ich in meiner Not zu ihr kam.

Glasporträt eines Mädchens, S.154

Orelie: Herr Williams, ich danke Ihnen für dieses Gespräch

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