Interview: Brandt~Orwell – Im Spanischen Bürgerkrieg

Christa, 24 décembre 2013

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Orelie: Guten Tag Herr George Orwell und Herr Willy Brandt. Ich freue mich sehr, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir über den Spanischen Bürgerkrieg sprechen werden, den Sie beide miterlebt haben. Sie, Herr Brandt kamen im Auftrag der Deutschen Sozialistischen Arbeiterpartei, der SAP nach Spanien, und Sie Herr Orwell hielten sich, unterstützt von der linkssozialistischen Independent Labour Party, der ILP, im Dezember 1936 in Barcelona auf. Sie wollten zu den Internationalen Brigaden gelangen, wurden aber der POUM, der Arbeiterpartei für marxistische Einheit, zugeordnet und an die Front in Aragonien geschickt. Beginnen wir mit Ihren Erfahrungen, die Sie in den Milizen gemacht haben. Was können Sie darüber berichten?

George Orwell: Es gab Offiziere und Unteroffiziere, aber keine militärischen Ränge im normalen Sinn, keine Titel, keine Dienstabzeichen, kein Hackenzusammenschlagen und kein Grüßen. Sie hatten versucht, in den Milizen eine Art einstweiliges Arbeitsmodell der klassenlosen Gesellschaft zu schaffen. Natürlich gab es dort keine vollständige Gleichheit, aber es war die größte Annäherung daran, die ich je gesehen oder in Kriegszeiten für möglich gehalten hatte. Aber ich gebe zu, dass mich die Verhältnisse an der Front beim ersten Eindruck sehr erschreckten. Wie war es möglich, dass der Krieg mit einer derartigen Armee gewonnen werden konnte? Wenn ein Soldat sich weigerte, einen Befehl zu befolgen, war es nicht üblich, ihn sofort bestrafen zu lassen; zunächst appellierte man im Namen der Kameradschaft an seine Vernunft. Zynische Menschen, die keine Erfahrung im Umgang mit Soldaten haben, werden sofort sagen, dass es niemals geht, aber tatsächlich geht es auf die Dauer. Mit der Zeit verbesserte sich die Disziplin selbst der schlimmsten Abteilungen in der Miliz sichtlich. Es ist ein Beweis für die Stärke der revolutionären Disziplin, dass die Milizen überhaupt draußen aushielten. Denn etwa bis zum Juni 1937 hielt sie nichts an der Front als ihre Klassenloyalität. Während vier oder fünf Monaten hörte ich in der POUM-Miliz nur einmal, dass vier Soldaten desertierten. Zwei von ihnen waren ziemlich wahrscheinlich Spione, die sich hatten anwerben lassen, um Informationen zu erlangen. Anfangs war ich entmutigt und aufgebracht über das offensichtliche Chaos, den allgemeinen Mangel an Ausbildung und die Tatsache, dass man oft fünf Minuten lang argumentieren musste, ehe ein Befehl befolgt wurde. Meine Ansichten stammten aus der britischen Armee, und sicherlich hatten die spanischen Milizen sehr wenig mit der britischen Armee gemeinsam. Aber in Anbetracht der Umstände waren sie bessere Truppen, als man mit Recht hätte erwarten können.

George Orwell, Mein Katalonien,Diogenes Verlag, Zürich, 1975, S.36-39

Orelie: Sie Herr Brandt waren anwesend, als George Orwell an der Front von Aragon im März 1937 schwer verwundet wurde.

Willy Brandt: Der Zufall wollte es, dass ich in der Nähe war, als Orwell Mitte März 1937 schwer verwundet wurde. Ich kam über das von der POUM beherrschte Lérida herüber, um mit den deutschen Genossen zu sprechen, die – wie er – als Freiwillige zur 29. Division gestoßen waren. Nachmittags hatten wir diskutiert und als « Gruppe Front Aragon der SAP », wenige Dutzend an der Zahl, eine Entschließung verabschiedet, abends saßen wir ohne viel Worte am Feuer: Das « Batallón de choque » sollte vor Tagesanbruch angreifen. Dieses Bataillon bestand aus meist mitteleuropäischen Sozialisten. Seit Wochen hatten die republikanischen Einheiten versucht, acht Kilometer vor Huesca eine Anhöhe zu nehmen, auf der jenes « Manicomio » stand, ein zur Festung verwandeltes Irrenhaus. Die Anhöhe wurde genommen, doch dann kam der Gegenangriff mit Luftunterstützung. Der Übermacht hatten die unseren nichts mehr entgegenzusetzen; offensichtlich war auch Spionage am Werk. Feindliche Artillerie schoß sich auf das « Manicomio » und auf den Stab ein, bei dem ich mich aufhielt. Die Landsleute von der « Legion Condor » nahmen uns vom Flugzeug aus mit dem Maschinengewehr aufs Korn. Das ist nicht allzu gefährlich, wenn es eine Mauer und einen Durchlaß gibt, die es erlauben, rasch genug die Seite zu wechseln. Der Artilleriebeschuß zuvor war unangenehmer: 100 Meter rechts, dann 50 Meter links, beim dritten Versuch 70 Meter zu kurz. Ich hatte mir zuvor – zum erstenmal – das Rauchen abgewöhnt, doch zwischen dem zweiten und dritten Einschlag bat ich meinen Nachbarn um eine Zigarette.

Willy Brandt, Links und frei, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2012, S.219-220

Orelie: Kommen wir auf die Anarchosyndikalisten zu sprechen, die in der Madrider Regierung des Ministerpräsidenten Largo Caballero sogar mit vier Ministern, darunter Federica Montseny, vertreten waren. Federica Montseny war die erste Frau, die in Spanien ein Ministeramt inne hatte. Auch mit der anarchistischen Gewerkschaft CNT arbeitete Caballero gut zusammen.

Willy Brandt: Anarchistische Überzeugung und Tradition hatten es geboten, dass sich ihre Anhänger nicht einmal an Parlamentswahlen beteiligten. Im Februar 1936 hatte die CNT jedoch zum erstenmal nicht zur Wahlenthaltung aufgerufen, und ihre Mitglieder gaben meist den Kandidaten der Frente Popular, vor allem Sozialisten, ihre Stimme. Einen viel tieferen Einschnitt bedeutete es natürlich, dass die Anarchosyndikalisten mit vier Ministern in die Zentralregierung eintraten, nachdem sie in der katalanischen Generalität schon vertreten waren. Zwischen Largo Caballero und führenden Repräsentanten der syndikalistischen CNT bahnte sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit an; man diskutierte sogar über eine Vereinigung der Gewerkschaftsbünde. Die Kommunisten proklamierten statt dessen die Einheit der Parteien, weil sie sich ausrechneten, dass sie auf diese Weise die Sozialisten unter ihre Kontrolle bringen könnten. Den Weisungen ihrer Berater zufolge verlangten die spanischen Kommunisten, es dürfe nichts geschehen, das die bürgerlichen Volksfrontpartner abstoßen könnte – es müsse Schluß sein mit dem « Unkontrollierbaren » und den « Unordentlichkeiten » der Revolution. Das war ein Angriff besonders gegen die Anarchosyndikalisten.

Links und frei, S.223

George Orwell: Es war der Gegensatz zwischen denen, die die Revolution vorantreiben wollten, und jenen, die sie kontrollieren und verhindern wollten. Letzten Endes also zwischen den Anarchisten und den Kommunisten. Die CNT war weniger gut bewaffnet, und ihre Anhänger waren weniger eindeutig davon überzeugt, was sie wollten, als ihre Feinde. Aber sie waren mächtig durch ihre Zahl und ihre Vorherrschaft in einigen Schlüsselindustrien.

Mein Katalonien, S.149

Orelie: Auch die POUM befürwortete die soziale Revolution und stand bei den Auseinandersetzungen in Barcelona auf der Seite der Anarchisten.

George Orwell: Die POUM setzte sich für die sofortige Revolution ein, die Kommunisten nicht. Darüber hinaus behaupteten die Kommunisten, die Propaganda der POUM entzweie und schwäche die Regierungstruppen und gefährde so den Sieg in diesem Krieg. Aber hier zeigte sich die Eigentümlichkeit der kommunistischen Taktik. Die POUM wurde als eine Bande verkleideter Faschisten angeprangert, die von Franco und Hitler bezahlt seien und eine pseudorevolutionäre Politik verfolgten, um so der faschistischen Sache zu helfen.

Mein Katalonien, S.81

Orelie: Die Lage spannte sich in Barcelona im Mai 1937 zu, da dort die Anarchisten zur Abgabe ihrer Waffen aufgerufen wurden, und die CNT das von ihr kontrollierte Telefonamt an die Regionalregierung abgeben sollte. Die Anarchisten kamen diesen Forderungen nicht nach, stattdessen errichteten sie Barrikaden, und es kam zu blutigen Straßenkämfen. Anhänger der CNT und POUM kämpften gegen Kommunisten, Sozialisten und nationalkatalanische Liberale. Sie beide haben diese Ereignisse miterlebt.

Willy Brandt Es waren die blutigen Maitage von Barcelona, die ich voller Verzweiflung miterlebte: Hunderte Tote und zahlreiche Verletzte waren die unmittelbaren Opfer eines wahnwitzigen Unterkriegs. Am 6. Mai wurden die Straßenkämpfe eingestellt. CNT und POUM, die von der Aragonfront keine Truppen abgezogen hatten, akzeptierten ein Arrangement, das die städtische Sicherheit wieder herstellte. Die Zentralregierung entsandte einige tausend Mann effektiver Einheiten nach Barcelona. Die Angleichung an die von der KP gewünschten Strukturen machte Fortschritte – wenn man eine Gleichschaltung so nennen will. Die führenden POUM-Leute wurden nun als Sündenböcke vorgeführt. Ihnen wurden alle Fehler und Unzulänglichkeiten angelastet, unter denen die Menschen zu leiden hatten. Es gibt keinen Zweifel, dass beabsichtigt war, auch den unbequemen Anarchisten das Kreuz zu brechen. Dies gelang nicht ganz, doch sie wurden empfindlich geschwächt. Meine persönlichen Erfahrungen während der Maitage entsprachen der Lage zwischen den Stühlen. Ich sah die Provokation und konnte doch nur inständig hoffen, dass sich eine Verständigung erreichen lassen werde.

Links und frei, S.236-237

Orelie: Largo Caballero, der zu dieser Zeit der Ministerpräsident in der Zentralregierung war, verteidigte die Leute der POUM und nannte sie seine Freunde. Aber er musste ein paar Tage später von seinem Präsidentenamt zurücktreten.

Willy Brandt: Am 15. Mai 1937, Caballeros Rücktritt erfolgte zwei Tage später, hatten die beiden KP-Minister kategorisch die Auflösung der POUM gefordert; mit der Anschuldigung, sie sei eine verschleierte faschistische Organisation, die in einer Verschwörung mit Franco den Aufstand in Barcelona angestiftet habe, um den Sturz der Republik herbeizuführen. Der Ministerpräsident trat dem scharf entgegen: Er, selbst ein Arbeiter, würde sich niemals dazu hergeben, eine Arbeiterorganisation zu unterdrücken. Er sei in die Regierung nicht eingetreten, um den Interessen einer besonderen in ihr vertretenen Partei zu dienen. Es sei Sache der Gerichte zu entscheiden, ob eine bestimmte Organisation sich so verhalten habe, dass sie aufgelöst werden müsse. Nach einer stürmischen Auseinandersetzung verließen die beiden kommunistischen Minister die Sitzung und demissionierten. Der Einfluss von außen erlaubte es nicht, dass eine Regierung ohne Teilnahme der Kommunisten gebildet würde. Diese lehnten die weitere Zusammenarbeit mit Largo Caballero ab. Also musste er das Feld räumen.

Links und frei, S.246-247

Orelie: Und Sie, Herr George Orwell, welche Eindrücke haben die Kämpfe in Barcelona bei Ihnen hinterlassen?

George Orwell: Die Kämpfe in Barcelona gaben der Regierung in Valencia den lang gesuchten Vorwand, sich eine stärkere Kontrolle über Katalonien anzumaßen. Die Miliz der Arbeiter sollte zerbrochen und unter die Einheiten der Volksarmee aufgeteilt werden. Offensichtlich hatte man sich auf die offizielle Version der Kämpfe in Barcelona schon geeinigt: sie sollten als der Aufstand der faschistischen « Fünften Kolonne » dargestellt werden, der nur von der POUM bewerkstelligt worden war. Nachdem die Kämpfe vorbei waren, hatte sich im Hotel die abscheuliche Atmosphäre des Misstrauens und der Feindschaft noch verschlimmert. Ich hatte den Punkt erreicht, wo ich jedesmal nach meiner Pistole griff, wenn eine Tür knallte. Wenn ich zurückschaue, erinnere ich mich beispielsweise an die zufälligen Begegnungen, die man damals hatte, die plötzlichen Blicke der Nichtkämpfer, für die die ganze Geschichte einfach ein sinnloser Aufstand war. Es muss eine Menge Leute in Barcelona gegeben haben, vielleicht war es sogar die Mehrzahl der Einwohner, die die ganze Angelegenheit ohne einen Funken Interesse betrachteten oder mit nicht mehr Interesse als einen Luftangriff.

Mein Katalonien, S.180-185

Orelie: Und welche Erinnerungen bewahren Sie in ihrem tiefen Innern an diese Zeit in Spanien auf?

George Orwell Der Zeitabschnitt, der damals so nutzlos und ereignislos zu sein schien, ist heute von großer Bedeutung für mich. Er unterscheidet sich so sehr von meinem übrigen Leben, dass er schon jetzt im Licht einer zauberhaften Qualität erscheint, die sich normalerweise nur bei Erinnerungen einstellt, die viele Jahre alt sind. Die Ereignisse selbst waren abscheulich, aber heute sind sie schon eine angenehme Erinnerung, bei der meine Gedanken gerne verweilen. In meiner Erinnerung fällt die Atmosphäre jener Zeit zusammen mit der Winterkälte, den zerlumpten Uniformen der Milizsoldaten, den ovalen spanischen Gesichtern, den Maschinengewehren, die wie Funktasten hämmerten, dem Geruch von Urin und faulendem Brot, dem Bohnenstew, das nach Konservenbüchse schmeckte und das wir hastig aus schmutzigen Kochgeschirren hinunterschlangen. Ich gehe die Reihe der Wachtposten unter den dunklen Zweigen der Pappeln auf und ab. In dem überfluteten Graben vor der Stellung paddeln die Ratten und machen einen Lärm wie Ottern. Wenn die gelbe Morgendämmerung hinter uns hochzieht, beginnt der andalusische Wachtposten, der sich in seinen Mantel eingehüllt hat, zu singen. Hundert oder zweihundert Meter über das Niemandsland hinweg kann man auch einen faschistischen Wachtposten singen hören.

Mein Katalonien, S.134-136

Orelie: Und was können Sie Herr Brandt nach so vielen Jahren zu den damaligen Ereignissen sagen?

Willy Brandt: Gibt es eine Gnade der geschichtlichen Distanz? Man konnte später erkennen, erst aus der Entfernung, dann an Ort und Stelle: Die Spanier wollen keinen neuen Bürgerkrieg. Ich erlebte in Madrid, dass der König nicht anders als die Führer der Sozialisten den Blick nach vorn richtete. In der Bundesrepublik dauerte es lange, bis sachlich über « Rotspanien » geredet werden konnte. Erst im Sommer 1972 – sofern sie ihren Wohnsitz im Ausland hatten, erst im Mai 1978 – wurden Deutsche, die in Spanien auf republikanischer Seite gekämpft haben, sowie deren Hinterbliebene, nach dem Bundesversorgungsgesetz mit den Angehörigen der Legion Condor gleichgestellt.

Links und frei, 251-252

Orelie: Ich danke Ihnen beiden für dieses Gespräch.

 

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