Interview: Bachmann – das dreißigste Jahr

Christa, 10 avril 2014

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Orelie: Ich begrüße Sie herzlich Frau Ingeborg Bachmann und möchte mich mit Ihnen über Ihre Erzählung Das dreißigste Jahr unterhalten. Sie handelt von einem Mann, es könnte auch eine Frau sein, es könnten auch Sie sein, aber wir wollen den männlichen Ich-Erzähler beibehalten. Er ist in seinem dreißigsten Jahr und will herausfinden, wer er ist. Warum zieht es ihn zuerst nach Rom?

Ingeborg Bachmann: Er muss nach Rom gehen, dorthin zurück, wo er am freiesten war, wo er vor Jahren sein Erwachen, das Erwachen seiner Augen, seiner Freude, seiner Maßstäbe und seiner Moral erlebt hat.

Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr Erzählungen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München,  April 1995, S.19-20

Orelie: Als er in Rom ankommt, trifft er auf seinen ehemaligen Feund Moll, aber der enttäuscht ihn. Wie ist ihm zumute?

Ingeborg Bachmann: Moll sorgt sich um ihn, erschleicht sich Bekenntnisse, die er an der nächsten Ecke an den Nächstbesten weitergibt, und nennt sich seinen Freund. Rom ist schön. Aber es ist unmöglich, hier nochmals zu leben. Von allen Seiten wird auf die Wand gedrückt, hinter der du Schutz suchst.

Das dreißigste Jahr, S.21-23

Orelie: Daraufhin möchte er das Leben auskosten. Aber einen Monat später überkommen ihn quälende Gedanken. An was denkt er?

Ingeborg Bachmann: Warum habe ich einen Sommer lang Zerstörung gesucht im Rausch oder die Steigerung im Rausch? – doch nur, um nicht gewahr zu werden, dass ich ein verlassenes Instrument bin, auf dem jemand, lang ist’s her, ein paar Töne angeschlagen hat, die ich hilflos variiere, aus denen ich wütend versuche, ein Stück Klang zu machen, das meine Handschrift trägt. Meine Handschrift! Als ob es darauf ankäme, dass irgend etwas meine Handschrift trägt!

Das dreißigste Jahr, S.25

Orelie: Dann begnügt er sich mit wenigem. Können Sie diese Bescheidenheit beschreiben?

Ingeborg Bachmann: Gut fühlte er sich allein, er forderte nichts mehr, trug die Wunschgebäude ab, gab seine Hoffnungen auf und wurde einfacher von Tag zu Tag. Er fing an, demütig von der Welt zu denken. Er suchte nach einer Pflicht, er wollte dienen. Einen Baum pflanzen. Ein Kind zeugen.

Das dreißigste Jahr, S.28

Orelie: Aber dann denkt er an einen Neubeginn der Welt und spricht von einer Prophezeiung. Was verheißt diese?

Ingeborg Bachmann: Dann, wenn du heil wärst und nicht mehr verwundet, gekränkt, süchtig nach Reinheit und Rache. Wenn du keine Märchen mehr glaubtest und dich nicht mehr fürchtetest im Dunkeln. Wenn du nicht mehr wagen müsstest und verlieren oder gewinnen, sondern machtest. Machst, den Handgriff in der größeren Ordnung, denkst in der Ordnung, wenn du in der Ordnung wärst, in der Rechnung, aufgingst in der hellen Ordnung.

Das dreißigste Jahr, S.35

Orelie: Er kommt nach Wien und trifft Moll wieder, der ihn fragt, ob er bei ihm mitmachen möchte, was er nicht will. Warum lehnt er Moll ab und kann ihm keine Sympathie entgegenbringen?

Ingeborg Bachmann: Moll ist ironisch geworden, bezieht die höchsten Honorare, eilt von Kongress zu Kongress. Moll, der jetzt bei Round-Table-Gesprächen vom einstigen Vermögen zehrt und die Welt keines neuen Einfalls für wert erachtet. Moll aalglatt, meinungslos Meinungen vertretend, Moll auf der Butterseite, Moll mit Verachtung für unsichere Existenzen. Moll überlegen, Moll mit Sinn für alles und alle Leute, die er vor Jahren verachtet hat.

Das dreißigste Jahr, S.42

Orelie: Er will Moll entkommen, aber er schafft es nicht. Warum?

Ingeborg Bachmann: Wie vermeidet man Moll? Welchen Sinn hat es, dieser Hydra Moll ein Haupt abzuschlagen, wenn ihr an Stelle eines jeden wieder zehn neue nachwachsen! Moll wird an allen Ecken und Enden auftauchen, immer wieder.

Das dreißigste Jahr, S.45

Orelie: Schließlich kehrt der Frühling ein, er verpflichtet sich zu einer Arbeit. Aber zuvor will er noch einmal durch norditalienische Provinzen wandern. Er wird von einem Autofahrer ein Stück des Weges mitgenommen, dabei kommt es zu einem Unfall mit einem Lastwagen. Er wacht in einer Klinik auf, entdeckt sein erstes weißes Haar und wie sieht er seinem dreißigsten Geburtstag entgegen?

Ingeborg Bachmann: Der Tag wird kommen, aber niemand wird an einen Gong schlagen und ihn künden. Nein, der Tag wird nicht kommen – er war schon da, enthalten in allen Tagen dieses Jahres, das er mit Mühe und zur Not bestanden hat. Er ist lebhaft mit dem Kommenden befasst, denkt an Arbeit und wünscht sich, durch das Tor unten bald hinausgehen zu können, weg von den Verunglückten, den Hinfälligen und Moribunden.

Das dreißigste Jahr, S.58

Orelie: Frau Bachmann, ich danke Ihnen für dieses Gespräch

 

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