Interview: Joseph Roth – Hiob

Christa, 6 décembre 2023

Orelie: Guten Tag, Herr Joseph Roth. Es freut mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Wir wollen über Ihren Roman Hiob sprechen, in dem der gläubige Jude Mendel Singer und sein fromme Frau Deborah sich von Gott herausgefordert fühlen. Mendel ist Lehrer und hat mit seiner Frau Deborah schon zwei Söhne, Jonas und Schemarjah, sowie die Tochter Mirjam, als ihr Sohn Menuchim auf die Welt kommt. Die Eltern werden sich schnell klar, dass ihr neugeborenes Kind nicht gesund ist und an Epilepsie leidet.

Josef Roth: Sein großer Schädel hing schwer wir ein Kürbis an seinem dünnen Hals. Seine breite Stirn fältelte und furchte sich kreuz und quer, wie ein zerknittertes Pergament. Seine Beine waren gekrümmt und ohne Leben wie zwei hölzerne Bögen. Seine dürren Ärmchen zappelten und zuckten. Lächerliche Laute stammelte sein Mund. Bekam er einen Anfall, so nahm man ihn aus der Wiege und schüttelte ihn ordentlich, bis sein Angesicht bläulich wurde und der Atem ihm beinah’ verging. Dann erholte er sich langsam.

Josef Roth, Hiob, Ideenbrücke, 2016, Kindle, Amazon, S.3

Orelie: Deborah sucht in ihrer Not den Rabbi auf, um Rat von ihm zu erhalten. Wie verläuft die Zusammenkunft zwischen ihr, Menuchim und dem Rabbi?

Joseph Roth: Wie eine Fackel wehte Deborah einher. Sie blieb an der Schwelle, auf beiden Armen bot sie ihren Sohn dar, wie man ein Opfer bringt. Sie hatte sich vorgenommen, in die Augen des Heiligen zu sehen, um sich zu überzeugen, dass wirklich in ihnen die mächtige Güte lebe. Aber nun sie hier stand, lag ein See von Tränen vor ihrem Blick. Aber ganz nah hörte sie die Stimme des Rabbi, obwohl er nur flüsterte: „Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seine Augen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und voll Widerhall.” „Wann, wann, wann wird er gesund werden?” „Nach langen Jahren”, sagte der Rabbi, „aber frage mich nicht weiter. Verlass deinen Sohn nicht, auch wenn er dir eine große Last ist, gib ihn nicht weg von dir, er kommt aus dir, wie ein gesundes Kind auch.” Draußen machte man ihr Platz. Ihre Wangen waren blass, ihre Augen trocken, ihre Lippen leicht geöffnet, als atmeten sie lauter Hoffnung.

Ibid, S.7-8

Orelie: Und wie geht Mendel mit seinem Leid um?

Joseph Roth: Als Deborah heimkehrte, traf sie ihren Mann am Herd. Sein gerader Sinn war auf die einfachen irdischen Dinge gerichtet und vertrug kein Wunder im Bereich der Augen. Er lächelte über den Glauben seiner Frau an den Rabbi. Seine schlichte Frömmigkeit bedurfte keiner vermittelnden Gewalt zwischen Gott und den Menschen.

Ibid., S.8

Orelie: Die Jahre gehen dahin, die Kinder wachsen heran, auch wenn Menuchims Beine gekrümmt bleiben und eines Tages sagt er das Wort „Mama.” Welche Bedeutung hat dieses von ihrem Sohn gesprochene Wort für seine Mutter?

Joseph Roth: Nicht vergeblich waren ihre Bitten geblieben. Menuchim sprach. Und dieses eine Wort der Missgeburt war erhaben wie eine Offenbarung, mächtig wie ein Donner, warm wie die Liebe, gnädig wie der Himmel, weit wie die Erde, fruchtbar wie ein Acker, süß wie eine süße Frucht. Es bedeutete, dass Menuchim stark und groß, weise und gütig werden sollte, wie die Worte des Segens gelautet hatten. Obwohl er nur dieses Wort bei jeder Gelegenheit sagte, erschien er seiner Mutter Deborah beredt wie ein Prediger und reich an Ausdruck wie ein Dichter.

Ibid., S.12

Orelie: Weitere Jahre vergehen. Die beiden älteren Söhne Jonas und Schemarjah sollen zum Militär eingezogen werden. Jonas ist sofort voller Eifer dabei und wird Soldat, während sein Bruder später abgeholt wird und bald darauf desertiert. Daraufhin gelingt ihm die Überfahrt nach New York. Er heiratet ein Mädchen namens Vera und arbeitet in einem Versicherungsunternehmen. Eines Tags taucht ein Amerikaner bei Mendel Singer auf, gibt ihm Nachricht und Dollars von Schemarjah, der sich wünscht, dass seine Familie zu ihm nach Amerika kommt. Welchen von ihm gefassten Entschluss teilt Mendel seiner Frau mit?

Joseph Roth: Der Samowar summte. Dann tranken Mendel und Deborah gleichmäßig mit gespitzten schlürfenden Lippen. Plötzlich setzte Mendel das Glas ab und sagte: „Wir werden nach Amerika fahren. Menuchim muss zurückbleiben. Wir müssen Mirjam mitnehmen. Ein Unglück schwebt über uns, wenn wir bleiben.” Er blieb eine Weile still und sagte dann leise: „Sie geht mit einem Kosaken.” Das Glas fiel klirrend aus den Händen Deborahs.

Ibid., S.39-40

Orelie: Deborah erinnert sich an die Worte des Rabbi, der ihr sagte, bei Menuchim zu bleiben, damit er gesund wird. Aber es ist kein Wunder geschehen, wofür sie auch ihren Mann verantwortlich macht, weil er den Rabbi nicht aufgesucht hat. Doch wie lautet Mendels Antwort?

Joseph Roth: „Was soll ich bei deinem Rabbi? Bist einmal dort gewesen, fahr’ noch einmal hin! Glaubst an ihn, dir wird er einen Rat geben. Du weißt, dass ich nichts davon halte. Kein Jude braucht einen Vermittler zum Herrn. Er erhört unsere Gebete, wenn wir nichts Unrechtes tun. Wenn wir aber Unrechtes tun, kann er uns strafen.”

Ibid., S.51

Orelie: Schließlich lassen Deborah und Mendel Singer ihren Sohn Menuchim bei einer jüdischen Familie zurück, der sie als Gegenleistung ihr Haus zur Verfügung stellen und sobald Menuchim gesund werden sollte, wird er auch nach Amerika kommen. In New York kümmert sich Schemarjah, der sich nun Sam nennt, um seine Eltern und seine Schwester. Am Anfang fühlt sich Mendel einsam, doch nach einiger Zeit hat er sich in der großen Stadt eingelebt. Eines Tags bekommen er und seine Frau Post und sie erfahren, dass Menuchim nun ein paar Worte spricht und ihr Sohn Jonas teilt ihnen mit, dass er weiterhin Soldat ist. Wie drücken die beiden ihre sie überkommende Freude aus?”

Joseph Roth: Sie saßen am Tisch und tranken den Met aus Teegläsern, sahen sich an und dachten das gleiche. „Der Rabbi hat recht”, sagte Deborah. Deutlich diktierte ihr die Erinnerung die Worte, die lange in ihr geschlafen hatten: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.” „Das hast du mir nie gesagt”, meinte Mendel. Er begann, an eine Heimkehr zu denken. Jetzt konnte man vielleicht bald Menuchim nach Amerika bringen. Er zündete eine Kerze an, löschte die Lampe aus und sagte: „Geh schlafen, Deborah!” Er holte aus dem Koffer sein altes Gebetbuch, heimisch war es in seiner Hand, er schlug mit einem Griff die Psalmen auf, und sang einen nach dem anderen. Es sang aus ihm. Er hatte die Gnade erfahren und die Freude.

Ibid., S.72

Orelie: Die Zeit läuft weiter. Mendel Singer wird neunundfünfzig Jahre alt. Schemarjah ist mit seiner Frau und ihrem gemeinsamen Sohn in eine reiche Gegend gezogen und Mirjam folgt ihnen, noch dazu Sams Freund Mac sie gerne sieht. Mendel und seine Frau Deborah bleiben jedoch in dem Armenviertel wohnen. Bald darauf tritt Amerika in den ersten Weltkrieg ein. Sam und Mac melden sich als Freiwillige. Kurze Zeit später muss Mendel Singer mit schlimmen Geschehnissen fertig werden. Sein Sohn Sam ist im Krieg gefallen und seine Frau Deborah stirbt daraufhin vor Schmerz. Seine Tochter Mirjam hat Mac während seiner Abwesenheit betrogen und beginnt wirres Zeug zu sprechen, weshalb sie in einer Heilanstalt untergebracht werden muss. Wie urteilt Mendel im Beisein seiner jüdischen Freunde über all dieses ihm zugestoßene Leid?”

Joseph Roth: „Habt ihr schon wirkliche Wunder gesehen, wie sie am Schluss von Hiob berichtet werden? Soll mein Sohn Schemarjah aus dem Massengrab in Frankreich auferstehn? Soll mein Sohn Jonas aus seiner Verschollenheit lebendig werden? Soll meine Tochter Mirjam plötzlich gesund aus der Irrenanstalt heimkehren? Soll mein Weib Deborah sich aus dem Grab erheben? Soll mein Sohn Menuchim mitten im Krieg aus Russland herkommen, gesetzt den Fall, dass er noch lebt? Denn es ist nicht richtig, dass ich Menuchim böswillig zurückgelassen habe. Meiner Tochter wegen, die angefangen hatte, sich mit Kosaken abzugeben, mussten wir fort. Und warum war Menuchim krank? Schon seine Krankheit war ein Zeichen, dass Gott mir zürnt – und der erste der Schläge, die ich nicht verdient habe.”

Ibid., S.89

Orelie: Während der hohen jüdischen Feiertage versammeln sich die Juden bei Mendel Singer, der nun bei einem jüdischen Freund eine Stube gefunden hat. Aber Mendel hält sich im Hintergrund und betet nicht mit. Was sagt er zu sich, nachdem er allein ist?

Joseph Roth: „Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer! Er hat keinen Sohn, er hat keine Tochter, er hat kein Weib, er hat kein Geld, er hat kein Haus, er hat keinen Gott.”

Ibid., S.94

Orelie: Der Krieg ist zu Ende und die Menschen gehen zu Friedensfeiern. Mendel Singer entdeckt ein Grammophon und Platten. Er schafft es, ein Lied erklingen zu lassen, das ihn zum Weinen bringt. Er hört von neuem das Lied, während sein Freund Skowronnek kommt. Was fragt Mendel ihn?

Joseph Roth: „Sieh nach, Skowronnek, wie das Liedchen heißt.” „Das sind die neuen Platten” – sagte Skowronnek. „Heute habe ich sie gekauft. Das Lied heißt” – und Skowronnek zog die Brille an, hielt die Platte unter die Lampe und las: „Das Lied heißt: Menuchims Lied.” Mendel wurde plötzlich schwach. Er musste sich setzen. Er starrte auf die spiegelnde Platte in Skowronneks Händen.

Ibid., S.96

Orelie: Eines Tags erfährt Mendel Singer, dass Musikanten aus seiner alten Heimat angekommen sind und jüdische Lieder spielen. Ihr Dirigent ist ein bekannter Komponist, der Alexej Kossak heißt. Sagt Mendel dieser Name etwas?”

Joseph Roth: „Kossak?” wiederholte Mendel. „Meine Frau ist eine geborene Kossak. Es ist ein Verwandter!”

Ibid., S.102

Orelie: In Wirklichkeit ist es sein Sohn Menuchim, der in einem medizinischen Institut geheilt worden ist, eine musikalische Begabung besitzt und nun ein Orchester leitet. Beschreiben Sie noch, was geschieht, nachdem Mendel Singer klar wird, dass Alexej Kossak sein Sohn Menuchim ist.

Joseph Roth: Er geht, er eilt, er hastet, er hüpft zu Kossak, dem Einzigen, der sitzen geblieben ist. Mendel sinkt vor dem sitzenden Menuchim nieder, er sucht mit unruhigem Mund und wehendem Bart die Hände seines Sohnes, seine Lippen küssen, wo sie hintreffen, die Knie, die Schenkel, die Weste Menuchims. Alle Anwesenden umringen Menuchim und Mendel, die Kinder weinen, die Kerzen flackern, die Schatten an der Wand ballen sich zu schweren Wolken zusammen. Niemand spricht. Endlich erklingt Menuchims Stimme: „Steh auf, Vater!” sagt er, greift Mendel unter die Arme, hebt ihn hoch und setzt ihn auf den Schoß, wie ein Kind. Jetzt sitzt Mendel auf dem Schoß seines Sohnes, lächelt in die Runde, jedem ins Angesicht. Er flüstert: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.” Deborah hat es gesagt. Er hört noch ihre Stimme.

Ibid., S.112

Orelie: Herr Joseph Roth, ich danke Ihnen für dieses Gespräch

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