Interview: Adenauer~de Gaulle – Europa

Christa, 19 avril 2015

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Orelie: Guten Tag, Herr Konrad Adenauer und Herr Charles de Gaulle, ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir uns der europäischen Frage zuwenden wollen. Europa hatte die deutsch-französische Aussöhnung und Zusammenarbeit als Ausgangspunkt und Grundlage. Können Sie das konkretisieren?

Charles de Gaulle: Es geht nicht darum, etwa die Politik der beiden Länder zu vermengen, sondern vielmehr anzuerkennen, dass sich die Situation jedes Landes stark von der des anderen abhebt, und auf dieser Wirklichkeit aufzubauen. Nach den Worten des Bundeskanzlers wage das erniedrigte und belastete Deutschland die Bitte an Frankreich, ihm zu helfen, die Achtung und das Vertrauen in der Welt wiederzufinden, die ihm seinen internationalen Rang zurückgeben würden und schließlich sein Recht auf Wiedervereinigung anzuerkennen. Ich weise den Bundeskanzler darauf hin, Frankreich habe weder hinsichtlich seiner Einheit noch seines Ranges etwas von Deutschland zu fordern; wohl aber könne es die Wiederherstellung seines jahrhundertealten Aggressors begünstigen. Es werde dies tun im Namen der Verständigung zwischen den beiden Völkern wie im Namen des Gleichgewichts, der Einheit und des Friedens Europas.

Charles de Gaulle, Memoiren der Hoffnung, Verlag Fritz Molden, Wien-München-Zürich, 1971, S.220

Orelie: Was ist bei der Schaffung Europas grundlegend zu bedenken?

Charles de Gaulle: Welch tiefer Illusion und Voreingenommenheit muss man verfallen, um glauben zu können, europäische Nationen, die der Hammer ungezählter Mühen und zahlloser Leiden auf dem Amboss der Jahrhunderte schmiedete, deren jede ihre eigene Geographie, ihre Geschichte, ihre Sprache, ihre besonderen Traditionen und Institutionen hat, könnten ihr Eigenleben ablegen und nur noch ein einziges Volk bilden? Welche Kurzsichtigkeit verrät der oft von naiven Gemütern vorgebrachte Vergleich dessen, was Europa tun sollte, mit dem, was die Vereinigten Staaten getan haben, die doch von Wellen um Wellen entwurzelter Siedler, ausgehend vom Nichts, auf jungfräulichem Boden geschaffen wurden?

Memoiren der Hoffnung, S.233-234

Orelie: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die EWG, wurde im März 1957 gegründet, und außer der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich gehörten ihr Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Italien an. Von Anfang an war die EWG also multilateral ausgerichtet. Wie sollte dieser Anspruch in der Praxis verwirklicht werden?

Charles de Gaulle: Praktisch bedeutet diese Überlegung: die Wirtschaftsgemeinschaft der Sechs in die Tat umzusetzen, deren regelmäßige Abstimmung im politischen Bereich herbeizuführen und dafür zu sorgen, dass gewisse andere, vor allem Großbritannien, das Abendland nicht in ein atlantisches System hineinziehen, das unvereinbar wäre mit jeder Möglichkeit eines europäischen Europa.

Memoiren der Hoffnung, S.207-208

Orelie: Herr Adenauer, wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Europa und den USA?

Konrad Adenauer: Es müsse aber absolut klar sein, dass nicht etwa eine Interpretation aufkommen könne, als wolle sich Europa von Amerika absondern. Europa dürfe nicht in eine ausschließliche Abhängigkeit von Amerika geraten. Ich sähe jedoch eine große Gefahr. Ich wisse nicht, ob die Masse der Amerikaner – und man müsse berücksichtigen, dass die öffentliche Meinung in Amerika eine ausschlaggebende Rolle spiele – überhaupt eine Vorstellung davon habe, was Europa bedeute und dass auch Amerika auf Europa angewiesen sei. Man müsse bei der Arbeit, die man in Angriff nehmen wolle, immer darauf achten, dass Amerika voll erkenne: Ein starkes Europa könne für Amerika nur gut sein.

Konrad Adenauer, Erinnerungen 1959-1963, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1978, S.62,65

Orelie: Wie sollte die politische Übereinkunft zwischen den sechs Staaten gestaltet werden?

Konrad Adenauer: Die Bundesregierung wolle dem Prinzip der politischen Zusammenarbeit zustimmen und mit regelmäßigen Treffen der Regierungschefs den Anfang machen. Im übrigen habe man immer erklärt, dass die Zusammenarbeit in der EWG allen offen stehe, die sämtliche Rechte und sämtliche Pflichten – dazu zählten natürlich auch die politischen Ziele – zu übernehmen bereit seien.

Erinnerungen 1959-1963, S.108,110

Orelie: Lassen wir uns über die Europäischen Gemeinschaften sprechen. Sie, Herr de Gaulle, befürworten hierbei, dass jeder der sechs Staaten seine Selbstbestimmung behält, obwohl die Gemeinschaft weiter wächst?

Chares de Gaulle: Heißt ihr Ziel Harmonisierung der praktischen Interessen der sechs Staaten, wirtschaftliche Geschlossenheit nach außen und möglichst gegenseitige Abstimmung des internationalen Vorgehens? Oder will sie die völlige Verschmelzung der Volkswirtschaften und der jeweiligen Politik herbeiführen, so dass sie in einem einzigen Gebilde mit eigener Regierung, eigenem Parlament, eigenen Gesetzen aufgehen, das seine Untertanen französischer, deutscher, italienischer, holländischer, belgischer und luxemburgischer Herkunft in allen Belangen regiert als Mitbürger eines künstlichen Vaterlandes, das dem Gehirn der Technokraten entsprang? Für diese Vorkämpfer der Integration gibt es bereits die europäische „Exekutive”: die Kommission der Wirtschaftsgemeinschaft, deren Mitglieder zwar von den sechs Staaten nominiert werden, diesen aber, sobald sie ernannt sind, in keiner Hinsicht mehr unterstehen.

Memoiren der Hoffnung, S.227-228

Orelie: Herr Adenauer, was möchten Sie hierzu sagen?

Konrad Adenauer: De Gaulle, habe zweifellos im Prinzip recht, wenn er sage, alle Rechte kämen aus den Staaten und Völkern und nicht aus der Brüsseler Organisation; aber man müsse sich im klaren sein, dass man auf einige Zeit hinaus noch doppelgleisig verfahren müsse, und zwar aus dem einfachen Grund heraus, weil die zu schaffende politische Institution gar nicht in der Lage sei, sogleich die Aufgaben der Gemeinschaften mitzuübernehmen. Es komme hinzu, dass der Gemeinsame Markt heute in der ganzen Welt einen solchen Widerhall gefunden habe, dass eine völlige Reorganisation durch die sechs Staaten von niemandem verstanden würde. Es sei auch gewollt und Absicht gewesen, dass die sechs Länder sich zunächst einmal mittels einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammengeschlossen hätten, weil nur diese wirtschaftliche Verflechtung eine solide Grundlage für ein politisches Gebilde abgeben könne. In seiner Botschaft an den Kongress habe Kennedy erklärt, dass Amerika zum ersten Male in der Geschichte sich einem wirtschaftlichen Gebilde gegenübersehe, das den Vereinigten Staaten beinahe gleichwertig sei, nämlich der EWG.

Erinnerungen 1959-1963, S.146-148

Orelie: Wie sehen Sie nach all dem Gesagten die Zukunft Europas?

Konrad Adenauer: Was bisher für Europa getan worden sei, sei Ausfluss der Politik gewesen. Als ich mit Robert Schuman den Vertrag über die Montanunion geschlossen hätte, sei dies ein politischer Akt gewesen. Er sei aus politischen Gründen erfolgt. Als der Gemeinsame Markt geschaffen worden sei, hätten auch politische Absichten Pate gestanden. Selbstverständlich ergänzten sich die Länder nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Leitfaden aber sei immer die Politik. Diese Tatsache müsse man anerkennen, doch leider gebe es Leute, die dies nicht täten. Sie wollten glauben machen, dass die Gemeinschaften das politische Europa bildeten, während es doch die europäischen Staaten seien, die Europa bildeten und vor allem Frankreich und Deutschland.

Erinnerungen 1959-1963, S.147-148

Charles de Gaulle: Ich glaube, dass heute wie in allen verflossenen Epochen die Einigung Europas nicht im Verschmelzen der Völker liegen, sondern nur das Ergebnis ihrer systematischen Annäherung sein kann, sein muss. Alles drängt sie dazu in unserer Zeit des Massenaustausches, der gemeinsamen Unternehmungen, der Wissenschaft und Technik, die keine Grenzen mehr kennen, in dieser Welt der schnellen Verbindungen und des vervielfachten Reisens. Meine Politik gilt daher der Einrichtung des Konzerts der europäischen Staaten, um so deren Solidarität wachsen zu lassen, indem sie untereinander die mannigfaltigsten Bande knüpfen und festigen. Nichts verwehrt uns den Gedanken, dass von da aus – vor allem wenn sich die Staaten eines Tages ein und derselben Bedrohung gegenübersehen – die Entwicklung zu ihrer Konföderation führen kann.

Memoiren der Hoffnung , S.207

Orelie: Ich danke Ihnen beiden für dieses Gespräch.

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