Interview: Dostojewski – Die Dämonen
Christa,
24 août 2020
Orelie: Guten Tag, Herr Fjodor Dostojewski. Ich begrüße Sie herzlich zu unserem Gespräch. Wir wollen über Ihren Roman Die Dämonen sprechen, der im Jahr 1873 veröffentlicht wurde, also in den Jahren, in denen revolutionäre Unruhen Russland erschütterten. Das Geschehen ereignet sich in der Provinz in der Nähe von St Petersburg. Stepan Trofimowitsch, der der älteren Generation angehört, ist ein Fürsprecher liberaler Ideen. Seit zweiundzwanzig Jahren ist er mit Warwara Petrowna, der vermögenden Witwe eines Generalleutnants, befreundet, zu der er in der Mitte des XIXten Jahrhunderts gezogen ist und von der er sich aushalten lässt. Als Warwaras Sohn Nikolai Wsewolodowitsch Stawrogin, den wir kurz Stawrogin nennen werden, acht Jahre alt war, wurde er von Stepan Trofimowitsch unterrichtet. Als junger Mann lebte Stawrogin in Westeuropa und in den USA. Während seines Auslandsaufenthalts kam er mit nihilistischen, sozialistischen und teilweise revolutionären Ideen in Berührung. Er kehrt zur gleichen Zeit wie Stepan Trofimowitschs Sohn, Pjotr Stepanowitsch, in seine Heimat zurück. Es heißt, Pjotr habe einen revolutionären Bund gegründet und sich an einer geheimen Proklamation beteiligt. Wie Stawrogin hielt auch Pjotr sich in der Schweiz auf und könnte ein Flüchtling sein. Was sagt Stepan Trofimowitsch über seinen Sohn?
F. Dostojewski: Das kommt mir ganz wunderbar vor, der gute Pjotr, c’est une si pauvre tête! Er ist brav, edelgesinnt, sehr gefühlvoll, und ich habe mich damals in Petersburg gefreut, wenn ich ihn mit der modernen Jugend verglich. Und wissen Sie, das kommt davon her, dass die jungen Leuten nicht ordentlich ausgebrütet, dass sie zu gefühlvoll sind! Was sie fesselt, ist nicht der Realismus, sondern die empfindsame, ideale Seite des Sozialismus, sozusagen seine religiöse Färbung, seine Poesie…die allerdings aus einer fremden Sprache stammt. Mein Pjotr ein Aufwiegler! In was für Zeiten leben wir!”
Fjodor Dostojewski, Die Dämonen, Insel Taschenbuch, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig, 2008, Erster Teil, zweites Kapitel, S.103
Orelie: Wir werden sehen, dass sich Stepan Trofimowitsch mit dieser Einschätzung seines Sohns gewaltig täuscht und vielleicht weiß er das auch selber. Er befürchtet nämlich, dass die ältere Generation für so manches Handeln der jüngeren zur Verantwortung gezogen werden könnte. Der Student Iwan Schatow spricht in einem Gespräch mit Stepan Trofimowitsch über den unguten Einfluss der gesamten älteren Generation auf die jüngere. Was sagt er zu ihm?
F. Dostojewski: Und nicht genug damit, dass Sie das Volk verkennen, empfinden Sie gegen dasselbe auch Ekel und Geringschätzung, schon allein deswegen, weil Sie sich unter einem Volke nur das französische Volk vorstellen, und auch von dem nur die Pariser, und sich schämen, dass das russische Volk nicht von derselben Art ist. Das ist die nackte Wahrheit! Jeder, der sein Volk zu verstehen aufhört und die Verbindung mit ihm verliert, verliert auch im selben Augenblick und im selben Maße den väterlichen Glauben und wird entweder ein Atheist oder gleichgültig. Das ist der Grund, weshalb Sie alle und wir alle jetzt entweder schändliche Atheisten oder indifferentes, liederliches Gesindel sind und weiter nichts! Und ich schließe auch Sie, Stepan Trofimowitsch, ganz und gar nicht aus; was ich gesagt habe, war sogar ausdrücklich auf Sie gemünzt.”
Erster Teil, erstes Kapitel, S.53-54
Orelie: Schatow ist dem von Pjotr Stepanowitsch ins Leben gerufenen revolutionären Bund beigetreten und schwebt in Gefahr, ermordet zu werden. Er erklärt gegenüber Stawrogin, dass er aus dieser Gesellschaft austreten will.
F. Dostojewski: Ich habe ehrlich erklärt, dass ich vollständig aus dem Bunde ausscheide! Das ist mein Recht, das Recht meines Gewissens und meines Verstandes. Das werde ich mir nicht gefallen lassen! Es gibt keine Macht, die imstande wäre…Sie, Stawrogin, wie konnten Sie sich nur in eine so schamlose, talentlose, lakaienhafte, abgeschmackte Gesellschaft verirren. Sie ein Mitglied dieses Bundes! Ist das Nikolai Stawrogins würdig?
Zweiter Teil, erstes Kapitel, S.317-318
Orelie: Stawrogin gibt ihm zu verstehen, dass er selbst kein Mitglied des Bundes und also kein Genosse ist. Allerdings ist es auch für ihn nicht leicht, seine Verbindungen zu dieser Gesellschaft abzubrechen und er kann sogar der Spionage beschuldigt werden. Es ist Pjotr Stepanowitsch, der ihn zwingen und nicht in Ruhe lassen will. Jedoch beschreibt der Erzähler in Ihrem Roman auch Stawrogin als einen böswilligen Menschen.
F. Dostojewski: Diese Bosheit war eine kalte, ruhige und, wenn man sich so ausdrücken kann, eine vernünftige, also die abscheulichste und furchtbarste, die es nur geben kann.
Erster Teil, fünftes Kapitel, S.271
Orelie: Stawrogin ist in der Tat lasterhaft, hemmungslos und verachtenswert, aber er zweifelt immer wieder an seiner Lebensweise. Er hat schlimme, abscheuliche Taten begannen. In einem Gespräch, das er mit dem früheren Bischof Tichon in einem Kloster führt, gesteht er wie ein Besessener, dass er ein minderjähriges Mädchen vergewaltigt hat, das daraufhin Selbstmord beging. Stawrogin hätte den Selbstmord des Kindes verhindern können. Als wollte er sich für seine Verbrechen bestrafen, heiratete er daraufhin heimlich die lahme und geisteskranke Marja Lebjadkin. Marja ist die Schwester eines ehemaligen Hauptmanns, der sich von Stawrogin bezahlen lässt, damit die Heirat nicht bekannt wird. Lebjadkin ist alkoholsüchtig und schlägt seine Schwester mit einer Peitsche. Schatow weiß von der Heirat und er hat Marja gern. Was sagt er zu Stawrogin?
F. Dostojewski: Ich weiß ebenfalls nicht, warum das Böse häßlich und das Gute schön ist; aber ich weiß, warum das Gefühl für diesen Unterschied sich bei Herren von Ihrer Art verwischt und verliert. Wissen Sie, warum Sie sich damals so schmählich und unwürdig verheiratet haben? Gerade deshalb, weil da die Schande und die Sinnlosigkeit bis zur Genialität gingen! Oh, Sie schlendern nicht vom Rande des Abgrundes hinweg, sondern stürzen sich kühn kopfüber hinab. Sie haben sich verheiratet aus Leidenschaft für die Selbstquälerei, aus Leidenschaft für Gewissensbisse, aus seelischer Wollust. Ihr Nervensystem war zerrüttet. Die gesunde Vernunft herauszufordern, das erschien Ihnen sehr reizvoll! Stawrogin und eine hässliche, lahme, schwachsinnige, bettelarme Frauenperson!
Zweiter Teil, erstes Kapitel, S.334
Orelie: Dieser Herausforderung an die gesunde Vernunft unterliegt Stawrogin nur allzu oft. Aber er verharmlost sein Verhalten und erklärt dem Ingenieur Kirillow gegenüber, dass er einen schwachen Charakter besitze. Und welche banale Gründe nennt er in einem Gespräch mit Lebjadkin?
F. Dostojewski: Ich habe damals Ihre Schwester geheiratet, als mir die Lust ankam, nach einem Diner mit vielem Wein, infolge einer Wette, und jetzt werde ich es laut veröffentlichen … wenn mir das jetzt Freude macht.
Zweiter Teil, zweites Kapitel, S.351
Orelie: Stawrogin hat gleichzeitig die Absicht, sich mit Lisaweta, der Tochter einer Generalswitwe zu verheiraten. Seine Mutter Warwara befürwortet und unterstützt diese Verbindung schon seit langem. Während einer Zusammenkunft bei Julija Michailowna, der Frau des Gouverneurs von Lembke, wird Stawrogin im Beisein seiner Mutter von Lisaweta jedoch auf seine Beziehung mit Lebjadkins Schwester angesprochen. Was sagt sie zu ihm?
F. Dostojewski: Nikolai Wsewolodowitsch, ein Hauptmann namens Lebjadkin, der sich Ihren Verwandten, den Bruder Ihrer Frau, nennt, schreibt mir fortwährend unpassende Briefe, beklagt sich darin über Sie und erbietet sich, mir Geheimnisse zu enthüllen, die Sie beträfen. Wenn er tatsächlich Ihr Verwandter ist, so verbieten Sie ihm doch, mich in dieser Weise zu beleidigen, und befreien Sie mich von diesen Belästigungen!
Zweiter Teil, elftes Kapitel, S.641
Orelie: Was gibt Stawrogin ihr zur Antwort und was geschieht daraufhin?
F. Dostojewski: „Ja, ich habe das Unglück, mit diesem Menschen verwandt zu sein. Ich bin der Mann seiner Schwester, einer geborenen Lebjadkina, schon seit fast fünf Jahren. Sie können überzeugt sein, dass ich ihm Ihr Verlangen in kürzester Zeit übermitteln werde, und ich stehe dafür, dass er Sie nicht mehr inkommodieren wird.” Niemals werde ich den Schrecken vergessen, der sich auf Warwara Petrownas Gesichte malte. Nikolai Wsewolodowitsch blickte sie an, blickte Lisa an, blickte die Zuschauer an und lächelte auf einmal in einer grenzenlos hochmütigen Weise; ohne Eile verließ er das Zimmer.
Zweiter Teil, elftes Kapitel, S.642
Orelie: Kommen wir auf die Frau des Gouverneurs von Lembke zu sprechen. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der in Pjotr Stepanowitsch und seinen Anhängern Feinde Russlands sieht, lässt seine Frau sich vollkommen von Pjotr einnehmen. Welches Urteil fällt der Erzähler über Julija Michailowna?
F. Dostojewski: Den Ereignissen vorgreifend, bemerke ich, dass, wenn Julija Michailowna nicht einen solchen Dünkel und einen solchen Ehrgeiz besessen hätte, vielleicht das, was diese schändlichen Burschen bei uns nachher angerichtet haben, nicht geschehen wäre. Sie trägt dabei an vielem die Schuld.
Zweiter Teil, viertes Kapitel, S.416
Orelie: Können Sie Julija Michailownas naive Auffassung der Lage verdeutlichen?
F. Dostojewski: Die Ärmste war mit einem Male ein Spielball der verschiedenartigsten Einflüsse geworden, während sie sich gleichzeitig einbildete, völlig selbständig zu sein. Viele geschickte Menschen machten sich während der kurzen Zeit, wo sie bei uns Frau Gouverneur war, ihre Harmlosigkeit zunutze und verstanden es, ihr Schäfchen zu scheren. Es gefiel ihr alles mögliche: der Großgrundbesitz, und das aristokratische Element, und die Vermehrung der Amtsgewalt des Gouverneurs, und das demokratische Element, und die neuen Einrichtungen, und die alte Ordnung, und die Freidenkerei, und die sozialistischen Ideen, und der strenge Ton des aristokratischen Salons, und die beinah wirtshausmäßige Ungeniertheit der jungen Leute in ihrer Umgebung. Sie schwärmte davon, unversöhnliche Gegensätze miteinander zu versöhnen oder, richtiger gesagt, alle und alles in der Vergötterung ihrer eigenen Person zu vereinigen. Sie hatte auch ihre Lieblinge; so gefiel ihr besonders Peter Stepanowitsch, der sich unter andern Mitteln auch der gröbsten Schmeichelei bediente. Aber er gefiel ihr auch noch aus einem andern sehr wunderlichen und für die arme Dame höchst charakteristischen Grunde: sie hoffte immer, er werde ihr eine ganze politische Verschwörung aufdecken! Sie hatte die Vorstellung, er stehe mit allem, was es in Russland an revolutionären Elementen gebe, in Verbindung, sei aber gleichzeitig ihr selbst bis zur Vergötterung ergeben. Die Aufdeckung der Verschwörung, der Dank aus Petersburg, die künftige Karriere, die Einwirkung auf die jungen Leute durch Freundlichkeit, um sie am Rande des Verderbens zurückzuhalten: All diese Gedanken erfüllten ihren phantasievollen Kopf.
Zweiter Teil, sechstes Kapitel, S.452-453
Orelie: Sie hat sich in Pjotr Stepanowitsch stark getäuscht, denn dieser hat schon seit längerem ein Komitee aus fünf Personen gebildet. Er lügt seinen Anhängern vor, dass solche Komitees in Moskau und ganz Russland eingerichtet sind, zentral gesteuert werden und in Verbindung mit der allgemeinen europäischen Revolutionspartei stehen. Er möchte auch Stawrogin auf seine Seite bringen, doch dieser will mit einem Mord an Schatow, Lebjadkin und Marja nichts zu tun haben, was er Pjotr klar zu verstehen gibt.
F. Dostojewski: Ich werde Ihnen Schatow nicht überlassen. Sie wollen durch diese Bindemittel Ihre Gruppen zusammenleimen. Aber mich, wozu in aller Welt haben Sie mich jetzt nötig? Sie setzen mir fast von dem Augenblicke an zu, wo ich aus dem Auslande gekommen bin. Dabei wünschen Sie, ich möchte dadurch, dass ich Lebjadkin fünfzehnhundert Rubel gebe, Ihren Fedka veranlassen, ihn zu ermorden. Ich weiß, Sie haben die Vorstellung, es sei mir erwünscht, wenn auch meine Frau gleichzeitig ermordet würde. Dadurch, dass Sie mich durch ein Verbrechen binden, hoffen Sie natürlich Gewalt über mich zu erlangen; so ist es doch. Aber wozu wollen Sie über mich Gewalt haben? Wozu wollen Sie mich gebrauchen? Sehen Sie mich doch ein für allemal näher an, ob ich ein Mensch bin, der für Sie taugt, und lassen Sie mich dann in Ruhe!
Zweiter Teil, Achtes Kapitel, S.544
Orelie: Es gibt ein großes Fest, zu dem Julija Michailowna eingeladen hat, aber auf dem es zu tumultartigen Ausschreitungen kommt. Sie weist Pjotr Stepanowitsch die Schuld an diesen zu, weil er nicht anwesend war. Ihrer Meinung nach war das Ganze ein böser Komplott gegen sie und ihren Mann und noch dazu eine entsetzliche Schande. Welche Ausreden hat Pjotr Stepanowitsch, um sie zu besänftigen?
F. Dostojewski: Ein Komplott gegen Julija Michailowna, die doch gerade diese Menschen verzogen und patronisiert und ihnen all ihre leichtfertigen Streiche unverdientermaßen verziehen hat? Wovor habe ich sie gewarnt? Wozu in aller Welt hatten Sie denn dieses ganze Pack nötig? Mussten Sie sich mit diesen gemeinen Menschen liieren? Um eine Vereinigung der Gesellschaft herbeizuführen? Warum nehmen Sie die Schuld auf sich? Ist nicht weit eher das Publikum schuld, die alten Väter, die Familienväter? Die mussten die Taugenichtse und Herumtreiber im Zaume halten. Aber was tun bei uns die Familienväter, die Würdenträger, die Frauen und Mädchen in solchen Fällen? Sie schweigen und fühlen sich gekränkt.
Dritter Teil, Zweites Kapitel, S.689,694
Orelie: Trotz der Unruhen verzichtet Julija Michailowna nicht auf den abschließenden Tanzball, doch während des Balls bricht in einem Stadtteil ein Feuer aus. Es ist Brandstiftung gewesen, und kurz darauf verbreitet sich die Nachricht, dass in der Nacht des Brandes der Hauptmann Lebjadkin, seine Schwester Marja und die Magd der beiden ermordet worden sind. Der Täter ist der entlaufene Sträfling Fedka. Der Anstifter ist Pjotr Stepanowitsch und Strawogin wusste darüber Bescheid. Lisaweta, die Stawrogin immer noch liebt, will von diesem die Wahrheit zu den Morden erfahren. Was antwortet Stawrogin ihr?
F. Dostojewski: Ich habe sie nicht getötet und bin dagegen gewesen; aber ich habe gewusst, dass sie getötet werden würden, und habe die Mörder nicht zurückgehalten. Gehen Sie von mir fort, Lisa!
Dritter Teil, Drittes Kapitel, S.740
Orelie: Lisaweta sucht den Ort auf, wo die Morde begannen worden sind und wird von der aufgebrachten Menge als die Geliebte Stawrogins erkannt. Daraufhin schlagen mehrere Personen auf sie ein und sie stirbt kurz darauf an ihren Verletzungen. Stawrogin verlässt die Stadt und geht nach St Petersburg. Pjotr Stepanowitsch sucht das Fünferkomitee auf und erklärt diesem, dass Schatow sie als Brandstifter denunzieren wolle. Deshalb müsse er beseitigt werden. Kirillow werde den Mord auf sich nehmen. Aus einem früheren Gespräch zwischen Kirillow und Pjotr Stepanowitsch geht hervor, dass Stepanowitsch den Mord an Schatow schon seit langem kaltblütig plante, denn was fragte Kirillow ihn damals?
F. Dostojewski: In der Gesellschaft wurde der Gedanke ausgesprochen, ich könnte mich dadurch nützlich machen, dass ich mich tötete; wenn Sie hier irgend etwas angerichtet hätten und man nach den Schuldigen suchte, sollte ich mich erschießen und einen Brief hinterlassen, dass ich alles getan hätte, so dass auf Sie ein ganzes Jahr lang kein Verdacht fallen könnte. Das tue ich. Wird es bald soweit sein?
Zweiter Teil, sechstes Kapitel, S.492
Orelie: Kurz bevor Schatow ermordet wird, kehrt seine schwangere Frau Marja zu ihm zurück. Sie bringt einen Jungen zur Welt, der Schatows Vornamen Iwan erhalten soll. Schatow freut sich auf einen Neubeginn mit seiner Frau und dem Kind. Doch was deutet Marja in einem ergreifenden Gespräch mit ihrem Mann an?
F. Dostojewski: „Beugen Sie sich zu mir herunter!” sagte sie auf einmal in seltsamem Tone, indem sie sich nach Möglichkeit bemühte, ihn nicht anzusehen. Er fuhr zusammen, beugte sich aber herab. „Noch weiter … nicht so … näher!” Und auf einmal schlang sich ihr linker Arm ungestüm um seinen Hals, und er fühlte auf seiner Stirn einen kräftigen, herzlichen Kuss. „Marja!” Ihre Lippen bebten; sie suchte sich zu beherrschen; aber plötzlich richtete sie sich auf und sagte mit funkelnden Augen „Nikolai Stawrogin ist ein Schuft!”
Dritter Teil, Drittes Kapitel, S.822
Orelie: Pjotr Stepanowitsch erklärt vor seinen Anhängern, dass er Schatows Denunziation mit eigenen Augen gesehen hat. Als Schatow an dem düsteren Ort ankommt, zieht Stepanowitsch seinen Revolver, richtet ihn von vorne gegen Schatows Stirn und drückt ohne zu zögern ab. Danach eilt er zu Kirillow, der sich nun erschießen und den Mord auf sich nehmen soll. Kirillow will durch seinen Selbstmord beweisen, dass Gott nicht existiert, denn durch seinen Selbstmord ist aller Willen sein geworden. Es gibt Gottes Willen nicht mehr, er selber ist Gott geworden. Kirillow unterschreibt ein Schriftstück, in dem er bekennt, Schatow, Fedka, Lebjadkin und seine Schwester Marja getötet zu haben. Dann erschießt er sich. Pjotr Stepanowitsch flieht ins Ausland. Sein Vater, Stepan Trofimowitsch, verlässt die Stadt zu Fuß und wird auf der Straße von Bauern gefunden, die ihn zu einem Gasthaus bringen. Da er fiebert, macht sich der Wirt Sorgen, denn er gehöre in ein Krankenhaus. Warwara Petrowna hat Erkundigungen eingezogen und findet ihn in der Herberge, wo sich die beiden ihre zwanzigjährige Liebe gestehen. Der ankommende Arzt verordnet dem Kranken Ruhe, aber Stepan Trofimowitsch stirbt drei Tage später. Kommen wir auf Warwaras Sohn Nikolai zu sprechen, und hier bekommt wie in vielen Ihrer Romane die Frage nach der Schuld eines Menschen wieder ihre volle Bedeutung. Stawrogin hat die Möglichkeit mit Schatows Schwester Darja, die gleichzeitig die Pflegetochter seiner Mutter ist, in die Schweiz zu gehen. Dort könnte er in dem Kanton Uri ein zurückgezogenes Leben führen. Aber zu was entscheidet er sich?
F. Dostojewski: Warwara Petrowna eilte die Treppe hinauf, Darja ihr nach. Auf einem Tischchen lag ein Stück Papier, auf dem mit Bleistift geschrieben war: „Es soll niemand beschuldigt werden; ich habe es selbst getan.” Die starke seidene Schnur, an welcher sich Nikolai Wsewolodowitsch aufgehängt hatte, war offenbar nach sorgsamer Auswahl vorher beschafft und reichlich mit Seife eingerieben worden. Alles zeugte von vorbedachter Absicht und klarer Überlegung bis zum letzten Augenblicke. Unsere Ärzte stellten nach der Sektion das Vorhandensein von Geistesstörung vollständig und mit aller Entschiedenheit in Abrede.
Dritter Teil, Achtes Kapitel, S.929
Orelie: Herr Fjodor Dostojewski, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski,Werke