Orelie: Guten Tag, Herr Klaus Mann. Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung zu diesem Gespräch gefolgt sind. Wir wollen über Erinnerungen aus Ihrer Kindheit sprechen. Was können Sie als erstes hierzu sagen?
Klaus Mann: Die Zeit der Kindheit scheint mir jetzt , in der Erinnerung, eine glänzende Reihenfolge heiterer Zeremonien und zeremonieller Freuden. Es gibt immer etwas, dem man erwartungsvoll entgegensieht. Am Vormittag freut man sich auf das Mittagessen; während man die Suppe löffelt, träumt man schon vom Pudding. Von September bis Dezember wartet man auf Weihnachten – die wundervolle Minute im dunklen Zimmer, wo wir die feierlichen Lieder singen, bevor die Flügeltüre sich öffnet und den glitzernden Anblick des Zauberbaumes enthüllt. Die folgenden Wochen sind noch von Weihnachtserinnerungen erleuchtet, die allmählich in die Erwartung des Osterfestes übergehen. Freilich kann der Ritus der bunten Eier es nicht mit der großen Freude des geschmückten Tannenbaumes aufnehmen; aber Ostern ist auf seine Art doch auch eine große Sache – der heitere Beginn des Frühlings, das Versprechen des Sommers.
Klaus Mann, Der Wendepunkt, Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2019, e-book, Amazon kindle, S.43-44
Orelie: Kommen wir zu weiteren Erlebnissen. In der Nacht während des Schlafs hatten Sie als Kind häufig Albträume und wachten voller Angst auf. Wie alt waren Sie damals?
Klaus Mann: Im Alter von fünf oder sogar früher war ich schon vertraut mit dem bösen Geflüster der Albträume. Die Stube, die ich erst mit Erika teilte, dann mit Golo, füllte sich nachts mit Gespenstern. Wie ich ihn verabscheute, den blassen Herrn, der fast jede Nacht meinen Frieden zu stören kam. Manchmal trug er seinen Kopf unterm Arm, als wäre es ein Blumentopf oder ein Zylinder.
Ibid., S.25
Orelie: Was löste dieses Bild bei Ihnen aus?
Klaus Mann: Mir brach der Angstschweiß aus angesichts dieser weißen Fratze, die in so ungewöhnlicher Position freundlich nickte und grinste.
Ibid
Orelie: Kam jemand Ihnen und Ihren Geschwistern zu Hilfe?
Klaus Mann: „Schaut ihn doch einfach nicht an, wenn er wiederkommt!” riet Vater. „Sagt ihm nur, dass ein Kinderschlafzimmer kein Ort ist, wo anständige Geister sich herumtreiben, und dass er sich schämen sollte. Und wenn das immer noch nicht genügt, so tut ihr gut daran hinzuzufügen, dass euer Vater sehr reizbar ist und hässlichen Spuk in seinem Haus nicht duldet.”
Ibid.
Orelie: Nutzten die Ratschläge Ihres Vaters etwas?
Klaus Mann: Es war ein durchschlagender Erfolg und bewies uns aufs eindrucksvollste, wie viel der väterliche Einfluss sogar in der Gespenster-Sphäre vermochte. Um diese Zeit begannen wir ihn „Zauberer” zu nennen, zunächst nur unter uns; da wir aber bemerkten, dass der Name ihm nicht missfiel, kam er bald auch offiziell zur Anwendung.
Ibid.,S.26
Orelie: Diesen Namen behielt Thomas Mann bei. Aber bleiben wir bei Ihrer Kindheit. Wie haben Sie während dieser Ihren Vater in Erinnerung behalten?
Klaus Mann: „Vater”…: das ist die kitzelnde Berührung eines Schnurrbartes; der Duft von Zigarren, Eau de Cologne und frischer Ẅäsche; ein sinnendes, zerstreutes Lächeln, ein trockenes Räuspern, ein zugleich abwesender und durchdringender Blick. „Vater” bedeutet eine freundliche, sonore Stimme, die langen Bücherreihen im Arbeitszimmer, der wohlgeordnete Schreibtisch mit dem stattlichen Tintenfass, dem leichten Korkfederhalter, der ägyptischen Statuette, dem Miniaturporträt Savonarolas auf dunklem Grund; gedämpfte Klaviermusik, die aus dem halbdunklen Wohnzimmer kommt. Ja, die Musik, mehr als irgendein anderes Attribut, scheint essentiell zu seinem Wesen zu gehören.
Ibid., S.29-30
Orelie: Und Ihre Mutter, die Mielein genannt wurde, was können Sie zu ihr sagen?
Klaus Mann: Sie ist die vertrauteste Figur, die unentbehrliche. Sie lehrt uns, zu beten und zu schwimmen und uns die Zähne zu putzen; sie macht den Speisezettel, kauft die Geburtstagsgeschenke, sieht die Schulaufgaben durch, geht mit uns zum Rodeln und zum Schlittschuhlaufen. Das mütterliche Haar ist weich und dunkel; die mütterlichen Augen sind goldbraun; die mütterlichen Hände sind zugleich zart und tüchtig: sie können das Loch in deinem Hemd stopfen und sogar deine Haare schneiden. Sie können strafen und streicheln, spielen und liebkosen.
Ibid., S.31
Orelie: Sie und Ihre zu der Zeit drei Geschwister Erika, Golo ind Monika hatten außerdem ein Kindermädchen, das nach einiger Zeit durch ein anderes ersetzt wurde. Was können Sie zu diesen Damen sagen?
Klaus Mann: Natürlich unterschieden sich die hohen Frauen in Einzelheiten voneinander, aber was sie gemeinsam hatten, war tiefer und wesentlicher. Alle schwelgten sie in der Erinnerung an einen idealen Haushalt, dem sie einst in führender Stellung angehört hatten, das Palais eines ehrwürdigen Barons oder Kommerzienrates, wo es zugleich sittsam und lustig zugegangen war. Alle bemerkten sie mit demselben gönnerhaften Lächeln, dass unsere Eltern „sehr interessante Menschen”, seien, wobei sie diskret auf den Unterschied anspielten, der zwischen unserer Bohemewirtschaft und dem tadellosen Haushalt des Kommerzienrates nun einmal leider bestand. „Andere Kinder” waren kräftig, brav, wahrheitsliebend, im Gegensatz zu uns wilden heuchlerischen Schwächlingen. Wir konnten andere Kinder nicht leiden. Es war erst viel später, als ich etwa zwölf Jahre alt war, dass wir anfingen, Freunde zu haben.
Ibid., S.39-40
Orelie: Das muss nach dem ersten Weltkrieg gewesen sein. So sollten wir, Herr Klaus Mann, nun auf diese düstere Zeit in Ihrer Kindheit zu sprechen kommen. Ihr Vater schrieb in diesen Jahren sein Buch Betrachtungen eines Unpolitischen, in dem er in den deutschen militärischen Aggressionen eine Verteidigung der deutschen Kultur sieht. Was können Sie hierzu sagen?
Klaus Mann: In den „Betrachtungen” verschwendet ein adliger Kämpfer sein Talent, seine Kräfte im Dienst einer fixen Idee. Er meint, eine edle Dame, „Kultur” genannt, zu verherrlichen und zu beschützen, während er in Wahrheit für recht unedle Interessen und Kräfte eine wohlgeschärfte Lanze bricht.
Ibid., S.79
Orelie: Sein Bruder Heinrich hatte im ersten Kriegsjahr, in dem Deutschland im Siegestaumel schwebte eine Studie über Emile Zola veröffentlicht, in der er Zolas Eintreten für den zu Unrecht verurteilten Hauptmann Alfred Dreyfus lobt. Warum fühlte sich Ihr Vater von der Parteiergreifung seines Bruders für Zola persönlich angegriffen?
Klaus Mann: Während die ganze Nation sich an den Heldentaten unserer unbesiegbaren Armee begeisterte, wagte Heinrich Mann, dem unbesiegbaren Geist des französischen Kämpfers und Dichters ein literarisches Denkmal zu setzen. Wer nicht gut wegkommt in diesem Panegyrikus, das sind jene französischen Intellektuellen, die damals der Sache des Hauptmanns Dreyfus, und also der Sache der Wahrheit und des Rechtes, verräterisch in den Rücken fielen. Mit ihnen wird aufs unbarmherzigste abgerechnet. Aber richten Heinrich Manns schwungvolle Invektiven sich wirklich nur gegen die französischen Militaristen und Obskurantisten des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts? Waren seine Anwürfe nicht auch auf gewisse Zeitgenossen gemünzt? So jedenfalls empfand es der reizbare Verteidiger der unpolitisch-musikalisch-pessimistischen Kultur. Die anspielungs- und beziehungsreiche Zola-Beschwörung des Bruders traf und verletzte ihn wie ein persönlicher Angriff.
Ibid., S.80
Orelie: Daraufhin war der Kontakt zwischen den beiden Brüdern während der ganzen Kriegszeit unterbrochen. Wie beurteilten Sie diesen Krieg?
Klaus Mann: Ich war noch nicht ganz acht Jahre alt, als der Krieg begann, und gerade zwölf, als er endete. Aber selbst mein unerfahrener Sinn blieb nicht unberührt von jenen noch halb geheimen Strömungen, die zu der offiziellen Kriegsideologie in so verwirrendem Widerspruch standen. Der langsame Prozess dieses intellektuellen Erwachens wurde beschleunigt durch die Lektüre eine Buches, Bertha von Suttners klassischer Anti-Kriegs-Roman „Die Waffen nieder”. Die österreichische Pazifistin überzeugte mich von der Abscheulichkeit und von der Vermeidbarkeit des organisierten Massenmordes. Mir wurde klar, dass die Katastrophe hätte verhindert werden können. Die Verantwortung lag also nicht ausschließlich bei unseren Feinden, wie man uns so oft versichert hatte.
Ibid., S.82-83
Orelie: Auch gab es im Hause Mann Familiennachwuchs. Am 24. April 1918 wurde Ihre Schwester Elisabeth und am 21. April 1919 Ihr Bruder Michael geboren.
Klaus Mann: Die beiden Jüngsten waren inmitten von Aufruhr und Krise geboren. Angesichts der winzigen Kreaturen kamen wir uns recht würdig und überlegen vor, fast wie Onkel und Tante. Wir mussten zugeben, dass sie höchst drollig und niedlich waren – ein bisschen lästig, wenn sie schrien, aber reizend anzuschauen, wenn sie lachten oder schlummerten. Die beiden Kleinen nahmen in erheblichem Maß die elterliche Zärtlichkeit in Anspruch, woraus sich natürlich für uns ein gewisser Verlust ergab. Wir erkannten die Unvermeidlichkeiten dieses Vorganges und akzeptierten ihn so gelassen wie möglich.
Ibid., S.98
Orelie: Möchten Sie abschließend zu dem soeben Gesagten noch etwas hinzufügen?
Klaus Mann: Elisabeth, genannt Medi, hatte ein süßes Porzellangesichtchen; Michael (Bibi) hingegen wirkte eher sanguinisch. Elisabeth war der erklärte Liebling des Vaters; Mielein, um das Gleichgewicht herzustellen, verzärtelte ihren Jüngsten. Für Golo und Monika war die Lage besonders heikel; denn da sie sich ja ihrerseits schon in mittleren Jahren befanden, konnten sie mit der erlesenen Niedlichkeit von Medi und Bibi nicht mehr konkurrieren, ohne es aber mit uns, den Großen, an Vitalität und Abenteuerlust aufzunehmen. Im Bereich des wirklichen Lebens gehörten Erika und ich zusammen; unsere Solidarität war absolut und ohne Vorbehalt.
Ibid., S.98-99
