Orelie: Guten Tag, Herr Jean-Paul Sartre. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Wir haben uns vorgenommen, von dem Philosophen und ihrem Freund Maurice Merleau-Ponty zu sprechen. Wo sind Sie ihm zum ersten Mal begegnet?
Jean-Paul Sartre: In der Ecole Normale Supérieure kannten wir uns, ohne uns häufig zu sehen. Er war Externe, ich Interne: jede dieser Gruppen betrachtet sich als eine Ritterschaft, die andere als das Fußvolk. Folgte der Militärdienst; ich war Gefreiter, er wurde Leutnant: wiederum zwei Ritterschaften. Wir verloren uns aus den Augen. Er bekam ein Lehramt, ich glaube in Beauvais; ich unterrichtete in Le Havre.
Jean-Paul Sartre, Freundschaft und Widersprüche, in Sartre über Sartre -Autobiographische Schriften, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 1977, S.61
Orelie: Das war im Jahr 1931 und Sie waren 26 Jahre alt. Wann sahen Sie Merleau-Ponty wieder?
Jean-Paul Sartre: Der Krieg musste ausbrechen, damit wir uns näherkamen. 1941 bildeten sich überall in unserem Land Gruppen von Intellektuellen, die bestrebt waren, dem siegreichen Feind Widerstand zu leisten. Ich gehörte zu einer dieser Gruppen, Sozialismus und Freiheit. Merleau-Ponty schloss sich uns an. Diese Begegnung war keine Wirkung des Zufalls: wir stammten beide aus dem republikanischen Kleinbürgertum, und unsere Neigungen, unsere Tradition und unser Berufsethos trieben uns dazu, die Freiheit der Feder zu verteidigen.
Ibid, S.63-64
Orelie: In diesen Jahren wurden Sie und Merleau-Ponty Freunde, doch vertraten Sie beide in Ihren Diskussionen einen unterschiedlichen intellektuellen Ansatz, den weder er noch Sie aufgaben.
Jean-Paul Sartre: Ich fand immer und finde heute noch, dass es nur eine Wahrheit gibt, in Detailfragen jedoch schien es mir besser, meine Ansichten aufzugeben, wenn ich meinen Gesprächspartner nicht hatte überzeugen können, dass er die seinen aufgeben müsse. Merleau-Ponty hingegen fand eine Sicherheit in der Vielzahl der Perspektiven: er sah darin die Facetten des Seins. Was aber das andere betrifft, dass ich seine Vorbehalte mit Schweigen überging, wenn ich es tat, so tat ich es mit gutem Gewissen. Mein Fehler war viel eher, die Dezimalen wegzustreichen, um schneller Einmütigkeit zu erzielen. Jedenfalls zürnte er mir wohl nicht allzu sehr, da er sich die freundschaftliche Vorstellung erhalten hat, ich sei ein Vermittler. Ich weiß nicht, ob er aus diesen Diskussionen Nutzen zog. Ich vergesse aber nicht, was ich ihnen verdanke: ein durchlüftetes Denken. Dies war meiner Ansicht nach der reinste Augenblick unserer Freundschaft.
Ibid, S.64-65
Orelie: Und wie schätzen Sie Maurice Merleau-Pontys Haltung gegenüber dem Marxismus ein?
Jean-Paul Sartre: Indessen war er kein Marxist: nicht die Idee wies er zurück, sondern dass sie ein Dogma bildete. Er gestand nicht zu, dass der historische Materialismus die einzige Erhellung der Geschichte darstelle noch dass diese Erhellung aus einer ewigen Quelle komme, die prinzipiell den Wechselfällen des Ereignisses entzogen sei. Was warf er im Grunde der marxistischen Geschichtstheorie vor? Nichts anderes als diesen einen Hauptpunkt: sie ließ der Kontingenz keinen Raum.
Ibid., S.37
Orelie: Im Marxismus ist die Geschichte ein Verlauf von Klassenkämpfen, während sie für Merleau-Ponty, wie Sie gerade sagten, der Kontingenz unterliegt, was bedeutet, dass ein Ereignis eintreffen kann oder nicht oder dass es auch anders sein kann, als vorauszusehen war. Was können Sie hierzu sagen?
Jean-Paul Sartre: Der Marxismus ist im Grunde eine Praxis, deren Ursprung der Klassenkampf ist. Was für eine Lehre es auch immer gewesen wäre, er hätte ihr misstraut, weil er gefürchtet hätte, darin eine Konstruktion des „Überblicksdenkens” zu entdecken. Ein Relativismus also, aber aus Vorsicht; er glaubte nur an das eine Absolute: unsere Verankerung, das Leben.
Ibid.,S.68
Orelie: Herr Sartre, kommen wir auf die Zeitschrift Les temps modernes zu sprechen, die von Ihnen und Maurice Merleau–Ponty im Jahr 1945 gegründet wurde.
Jean-Paul Sartre: Seit 1943 träumten wir von der Zeitschrift. Wir hatten den gleichen Wunsch: aus dem Tunnel herauskommen, klar sehen. Er schrieb: „Unsere einzige Zuflucht besteht in einer möglichst vollständigen, möglichst getreuen Lektüre der Gegenwart, die nichts im voraus über deren Sinn sagt, die sogar das Chaos und die Sinnlosigkeit in ihr anerkennt, wo sie sich finden, die sich aber auch nicht versagt, eine Richtung und eine Idee in ihr festzustellen, wo sie sich finden.” Das war unser Programm.
Ibid., S.73
Orelie: Und wie entwickelte sich Merleau-Pontys Einstellug nach dem Krieg?
Jean-Paul Sartre: Merleau schrieb: „Der Krieg hat uns gelehrt, dass die Werte bloße Wörter bleiben, wenn ihnen nicht durch eine wirtschaftliche und politische Infrastruktur zur Wirklichkeit verholfen wird.” Merleau strebte nicht danach, der Verkünder eines Proletariats unter der Trikolore zu werden. Merleau verlieh dem gemeinsamen Wunsch nach demokratischer Einheit und nach Reformen am radikalsten Ausdruck. So aber war Merleau-Ponty, allein, ohne Parteigänger und Eiferer; sein stets originelles, stets neu ansetzendes Denken gewann an Glaubwürdigkeit.
Ibid., S.82-84
Orelie: Zwischen 1945 und 1950 änderte Maurice Merleau-Ponty allerdings seinen politischen Standpunkt im Blick auf die französischen Kommunisten. Können Sie hierauf näher eingehen?
Jean-Paul Sartre: Man nehme sich die Texte des Jahres 1945 wieder vor, man stelle einen Vergleich an, und man wird seine Enttäuschung, den Verschleiß seiner Hoffnungen ermessen. 1945:„Ohne Illusionen machen wir die Politik der KP.” In seinem Artikel von 1950: „Wir haben die gleichen Werte wie ein Kommunist.” Und, wie um die Schwäche dieses rein moralischen Bandes deutlicher zu zeigen: „Man wird mir sagen, die Kommunisten hätten keine Werte. Sie haben sie gegen ihren Willen.” Mit ihnen übereinzustimmen bedeutet für ihn, ihnen unsere Maximen zu unterstellen, obwohl er weiß, dass sie sie zurückweisen; und von der politischen Übereinstimmung ist überhaupt nicht mehr die Rede.
Ibid., S.88
Orelie: Und wie wirkte sich dieser Umstand auf die Zeitschrift Les temps modernes aus?
Jean-Paul Sartre: Als Leiter hätten wir schon längst, wir wussten es, eine Wahl treffen oder krepieren müssen. Der mehr private Charakter unserer Zeitschrift gewährte uns eine Frist, aber unsere anfangs politische Position lief Gefahr, sich allmählich in Moralismus zu verwandeln. Wir sanken niemals auf das Niveau der schönen Seele herab, aber die musterhaften Gefühle sprossen in unserer Umgebung hervor, während die Manuskripte seltener wurden: wir verloren an Höhe, die Leute hatten keine Lust mehr, bei uns zu schreiben.
Ibid., S.90
Orelie: 1950 gab Merleau-Ponty sein Amt als politischer Leiter der Zeitschrift Les temps modernes auf; er blieb allerdings weiterhin Chefredakteur. Zwei Jahre später verließ er die Zeitschrift. Sie hatten einen kritischen von ihm geschriebenen Vorspann zu einem Artikel weggelassen. Um welchen Artikel handelte es sich und was taten Sie gegen Merleau-Pontys Ausscheiden?
Jean-Paul Sartre: Ein Marxist schlug mir vor, für uns über „Die Widersprüche des Kapitalismus” zu schreiben. Der Artikel wurde in meiner Abwesenheit abgeliefert; er taugte nichts. Merleau- Ponty konnte sich nicht entschließen, ihn ohne einen Vorspann erscheinen zu lassen. Merleau nahm die Gelegenheit wahr, dem Autor in zwei Zeilen vorzuwerfen, dass er die Widersprüche des Sozialismus nicht einmal erwähnt habe. Ich las den Artikel mit seinem Vorspann und war um so ärgerlicher über diesen, je unhaltbarer ich jenen fand. Merleau, der die Nummer, wie man sagt, gemacht hatte, hatte seinerseits Paris verlassen, ich konnte ihn nicht erreichen. Allein und in frischfröhlicher Wut spannte ich den Vorspann einfach aus, der Artikel erschien ohne ihn. Merleau, der sah, dass man seinen Text gestrichen hatte, nahm die Sache von der schlechtesten Seite. Er griff zum Telefon und teilte mir seine Kündigung mit. Ich versuchte mit allen Mitteln, ihn von seiner Entscheidung abzubringen: er blieb unerschütterlich. Ich sah ihn einige Monate lang nicht mehr; er erschien nicht mehr in Les temps modernes und befasste sich niemals wieder mit der Zeitschrift.
Ibid, S.109Orelie: Und wie wirkte sich dieses Geschehen auf die Freundschaft zwischen Ihnen und Merleau-Ponty aus?
Jean-Paul Sartre: Zunächst mied er mich. Ich traf ihn manchmal, wir blieben einen Augenblick stehen, um miteinander zu sprechen; wenn wir uns schon verabschiedeten schlug ich ihm vor, dass wir uns tags darauf oder die folgende Woche wiedersehen sollten, worauf er mit zurückhaltender Höflichkeit antwortete: „Ich werde dich anrufen” und niemals anrief.
Ibid., S.111
Orelie: Im Jahr 1953 starb seine Mutter, an der er sehr hing. Mit ihr verband ihn eine glückliche Kindheit. Was können Sie hierzu sagen?
Jean-Paul Sartre: Ständig führte das stillschweigende Einverständnis zwischen Mutter und Sohn sie auf die frühen Erinnerungen zurück; und so trug , solange sie am Leben war, die Verbannung Merleaus noch milde Züge. Als seine Mutter starb, schlug der Wind alle Türen zu. Er hatte davon geträumt, sein Heil zu gewinnen: als er jung war, durch die christliche Gemeinschaft; als er erwachsen war, durch seine politischen Kameradschaften. Was blieb ihm? Seit einiger Zeit schon schwieg er: als das Schweigen nicht mehr genügte, wurde er Eremit und verließ sein Arbeitszimmer nur noch, um zum Collège de France zu gehen.
Jean-Paul Sartre: Ständig führte das stillschweigende Einverständnis zwischen Mutter und Sohn sie auf die frühen Erinnerungen zurück; und so trug , solange sie am Leben war, die Verbannung Merleaus noch milde Züge. Als seine Mutter starb, schlug der Wind alle Türen zu. Er hatte davon geträumt, sein Heil zu gewinnen: als er jung war, durch die christliche Gemeinschaft; als er erwachsen war, durch seine politischen Kameradschaften. Was blieb ihm? Seit einiger Zeit schon schwieg er: als das Schweigen nicht mehr genügte, wurde er Eremit und verließ sein Arbeitszimmer nur noch, um zum Collège de France zu gehen.
Ibid., S.111-112
Orelie: Schon seit 1952 hatte Merleau-Ponty am Collège de France einen Lehrstuhl für Philosophie inne. Doch kommen wir nochmals auf ihre Freundschaft zurück. Bei welcher Gelegeheit kamen Sie und Merleau-Ponty sich wieder näher?
Jean-Paul Sartre: Das geschah in Venedig, während der ersten Monate des Jahres 1956: die Société Européenne de Culture hatte dort Gespräche zwischen den Schriftstellern aus Ost und West organisiert. Die Kolloquien zogen sich über mehrere Tage hin: wir waren nicht gänzlich einer Meinung. Aber unter so vielen verschiedenen Menschen, die einen älter als wir, die anderen jünger, aus allen vier Ecken Europas zusammengekommen, fühlten wir, dass ein und dieselbe Kultur, ein und dieselbe für uns allein gültige Erfahrung uns verbanden.
Ibid., S.123-124
Orelie: Was können Sie bei seinen umfangreichen philosophischen Schriften in erster Linie von ihm sagen?
Jean-Paul Sartre: Er hat niemals aufgehört, Humanist zu sein.
Jean-Paul Sartre: Er hat niemals aufgehört, Humanist zu sein.
Ibid., S.121