Orelie: Ich begrüße Herrn Karl Rahner, Herrn Albert Camus und Herrn Heinrich Böll. Beginnen wir mit Ihnen, Herr Böll. Für Sie enthält die Lehre von Karl Marx viel Positives für die Entwicklung einer gerechteren Welt. Sie nennen es eine Erkenntnis, dass
Heinrich Böll: ohne Arbeiterbewegung, ohne die Sozialisten, ohne ihren Denker, der Karl Marx hieß, mehr als fünf Sechstel der heute Lebenden noch in einem dumpfen Zustand halber Sklaverei lebten; dass ohne Kampf, ohne Aufstände und Streiks, die erweckt, gelenkt werden mussten, die Kapitalisten nicht einen halben Schritt zurückgewichen wären.
Heinrich Böll, Widerstand ist ein Freiheitsrecht…, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2011, S.165
Orelie: Welchen Ursprung hat für Sie, Herr Albert Camus, der marxistische Fortschrittsglauben?
Albert Camus: Marxens wissenschaftlicher Messianismus ist jedoch bürgerlichen Ursprungs. Der Fortschritt, die Zukunft der Wissenschaft, der Kultur der Technik und der Produktion sind bürgerliche Mythen, die sich im 19. Jahrhundert als Dogma ausgebildet haben. Man wird vermerken, dass das Kommunistische Manifest im gleichen Jahr wie Renans Zukunft der Wissenschaft erscheint. Dies letztere, für einen Zeitgenossen konsternierende Glaubensbekenntnis vermittelt jedoch die genaueste Vorstellung jener beinahe mystischen Hoffnungen, welche im 19. Jahrhundert der Aufschwung der Industrie und die überraschenden Fortschritte der Wissenschaften auslösten.
Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2006, S.219
Orelie: Und Sie, Herr Karl Rahner möchte ich fragen, ob das Christentum beim Erlangen dieser positiven Errungenschaften nicht im Abseits stehen geblieben ist?
Karl Rahner Sagen wir es einmal ganz nüchtern und ohne uns davor zu drücken: diese Jenseitigkeit der letzten christlichen Hoffnung hat die Gefahr in sich, die Aufgaben dieser Welt nicht ganz ernst zu nehmen, sich mit der Misere des Daseins abzufinden, über die Armen, die sich selbst Entfremdeten, die Ärmsten hinwegzusehen. Diese Gefahr ist selbstverständlich da, und das Christentum ist ihr de facto immer wieder verfallen. Wenn vieles, was das Christentum hätte tun sollen, in der jungen, lebendigen Bewegung des Marxismus getan worden ist, dann müssen wir – ich weiß nicht, was wir anderes tun sollen – das als Mea culpa des Christentums wirklich eingestehen. Wir können hier nur sagen: wir müssen lernen, und wir müssen in diesem Sinne einen sich so verstehenden Marxismus nur unterstützen. Ich würde als Christ auch sagen, um das jetzt theologisch zu formulieren: in dieser marxistischen Bewegung einer echten, authentischen Liebe zum konkreten, elenden Menschen war auch der Geist Gottes am Werk, der bei uns Christen durch unser Versagen vielleicht nicht das bewirken konnte, was er in der Welt sicher bewirken will, wenn auch immer nur asymptotisch und ohne die letzte Selbstentfremdung des Menschen in diesem Leben vor dem Tod aufzuheben.
Karl Rahner, Kritisches Wort, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1970, S.98-99
Orelie: Sie geben also gleichzeitig zu verstehen, dass das Christentum keine innerweltliche Zukunftsutopie, wie das Errichten einer klassenlosen Gesellschaft, in sich trägt. Was lehrt das Christentum?
Karl Rahner Das Christentum lehrt: Während die Welt noch ihren Gang geht in den innerlich gekrümmten Bahnen ihrer endlichen Geschichte, während sie noch dem Wechsel unterworfen ist, indem sie nur ein Endliches durch ein anderes ersetzen kann, das – mag es auch besser sein als das vorausgehende – doch immer nur Verheißung und Enttäuschung in einem für den Geist bleibt, der seine Endlichkeit erkennt und erleidet, hat Gott die Welt schon aufgebrochen, ihr einen Ausgang eröffnet in seine eigene Unendlichkeit hinein. Die Geschichte, in der Gott selbst mit seinem eigenen Einsatz mitspielt, ist ja die Geschichte der Fleischwerdung Gottes und nicht nur das Ereignis eines bloß ideologischen Geistes. Das Christentum bekennt die Auferstehung des Fleisches und sagt damit, dass es im letzten nur eine Geschichte und ein Ende von allem gibt, dass alles erst dann in sein Ziel gelangt ist, wenn es Gottes selbst habhaft geworden ist.
Karl Rahner, Gegenwart des Christentums, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1963, S.22-23
Orelie: Für Sie, Herr Camus, kann die Geschichte nicht über die Natur des Menschen gestellt werden. Was wollen Sie deshalb über den russischen Marxismus sagen?
Albert Camus: Gibt es keine menschliche Natur, dann ist die Formbarkeit des Menschen in der Tat unendlich. So erklärt es sich, dass der russische Marxismus in seiner Gesamtheit die Welt des Irrationalen ablehnt, obwohl er sich ihrer zu bedienen weiß. Das Irrationale kann dem Reich dienen, aber es ebensogut widerlegen. Es entrinnt der Berechnung, und nur die Berechnung soll im Reich herrschen. Der Mensch ist nur ein Kräftespiel, auf das man rational einwirken kann. Unbesonnene Marxisten glaubten, ihre Lehre mit derjenigen Freuds zum Beispiel in Übereinstimmung bringen zu können. Man hat sie gründlich und sehr schnell eines Besseren belehrt. Freud ist ein ketzerischer und kleinbürgerlicher Denker, denn er hat das Unbewusste zutage gefördert und ihm mindestens ebensoviel Wirklichkeit beigelegt wie dem Über-Ich oder dem sozialen Ich. Dieses Unbewusste kann also die Originalität einer der Geschichte entgegengesetzten menschlichen Natur bestimmen. Der Mensch muss jedoch im Gegenteil im sozialen und rationalen Ich, einem Gegenstand der Berechnung, aufgehen. Es galt also nicht nur, das Leben eines jeden zu versklaven, sondern auch das irrationalste und einsamste Ereignis, dessen Erwartung den Menschen sein Leben lang begleitet. In seinem krampfhaften Streben nach der endgültigen Herrschaft sucht das Reich, den Tod in sich einzubeziehen.
Der Mensch in der Revolte, S.268-269
Orelie: Diese politische Ausbeutung der Lehre von Karl Marx wird auch von Ihnen, Herr Böll, sehr negativ gesehen.
Heinrich Böll: Als Karl Marx starb, war seine Lehre noch nicht im taktischen Sinn politisch wirksam geworden; sie gärte noch; vieles an ihr war unausgärbar, manches explodierte; in die Hände der Politiker gegeben, erwies sich seine Lehre als ein blutiges Instrument; vielleicht nur, weil die Welt die Antwort auf Marx schuldig blieb, seine Irrtümer benutzte, um seine Wahrheiten zu verdecken. Diejenigen, in deren Händen seine Lehre politisches Instrument wurde, benutzten ihn, um ihre Verbrechen und Irrtümer zu verdecken. Er war ein Revolutionär und ein Hasser, und gerade da, wo er nur Wissenschaftler sein wollte, trieb sein Hass ihn in die Sackgasse des Irrtums. Er, der den Menschen seiner Selbstentfremdung entreißen, zu sich selbst bringen wollte, wurde umgefälscht in den Götzen einer Unmenschlichkeit, die unzählige Opfer gefordert hat.
Widerstand ist ein Freiheitsrecht…, S.187
Commentaires
Une réponse à “Interview: Heinrich Böll~Albert Camus~Karl Rahner – Der Marxismus”
Der grundlegende Irrtum von Marx, der ihn vom Weg der klassenlosen Gesellschaft abirren und auf die schiefe Ebene des Kommunismus (Totalitarismus) geraten ließ, besteht darin, die Ursache der Ausbeutung im Privateigentum an den Produktionsmitteln zu suchen. In logischer Fortführung dieses Gedankens gelangt er dann zu seinem bekannten Vorschlag, dieses Privateigentum zu beseitigen, die Produktionsmittel zu sozialisieren, was lediglich auf eine Verstaatlichung hinausläuft. Wenn man, wie Marx, annimmt, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln den Zins bedingt, dann muss man von einer Beseitigung des Privateigentums auch die Beseitigung des Zinses, den er „Mehrwert“ nennt, erhoffen.
Die Überwindung des Kapitalismus ist daher für Marx lediglich eine Enteignungsfrage.
Marx erliegt dem optischen Eindruck und hält das Kapital in völliger Übereinstimmung mit der klassischen Nationalökonomie für eine Sache. Wer diese Sache zufällig besitzt, der vermag, nach Marx, andere auszubeuten. Für ihn ist der Unternehmer, weil er die Produktionsmittel in der Regel besitzt, kurzerhand der Ausbeuter.
Dieser Ansicht von Marx ist entgegenzuhalten: Nicht weil die Fabrik, das Mietwohnhaus, der Verkehrsbetrieb sich in privaten Händen befindet, vermag der Eigentümer einen Zins zu erzielen, sondern weil es zu wenig von diesen Sachgütern gibt, weil sie knapp sind. Die Knappheit bedingt also den Zins. Und diese Knappheit wird durch die Form des heutigen Geldes verewigt, das bei gesunkenem Sachzins die Investition verweigert; das sie verweigern kann, weil es streikfähig ist. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln allein genügt keineswegs, um einen Zins zu erzielen:
Irrtümer des Marxismus