Interview: Orwell – die Armut

Christa, 22 août 2013

DieArmut

Orelie: Guten Tag, Herr George Orwell. Ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch, in dem Sie über Ihre gemachten  Erfahrungen in den Slums von Paris in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts sprechen werden. Sie selber waren zu der Zeit fünfundzwanzig Jahre alt und hatten Ihren Dienst bei der britischen Kolonialpolizei in Burma quittiert. Sie wollten Schriftsteller werden und zogen zuerst nach London und kurz darauf nach Paris, wo sie mit Nachhilfestunden in Englisch und anderen Gelegenheitsjobs zu leben versuchten und in sordiden Hotels wohnten.

George Orwell: Mein Hotel hieß Hôtel des Trois Moineaux, ein düsteres, rachitisches Wildgehege mit fünf Stockwerken, die durch hölzerne Trennwände in vierzig Räume aufgeteilt worden waren. Die Zimmer waren klein und seit eh und je schmutzig, denn so etwas wie ein Stubenmädchen gab es nicht, und Madame F., die patronne, hatte keine Zeit, sich um das Aufwischen zu kümmern. Die Wände waren dünn wie Zündhölzer, und um die Risse zu verdecken, waren sie immer wieder mit neuen Schichten von rosa Papier bepflastert worden, die sich gelöst hatten und unzählige Wanzen beherbergten. Unterhalb der Decke marschierten den ganzen Tag lang Schlangen von Wanzen wie ein Heer kleiner Soldaten entlang, und nachts kamen sie gierig herab, so dass man alle paar Stunden aufstehen und sie massenhaft erledigen musste. Manchmal, wenn die Wanzen allzu aufdringlich wurden, brannte man Schwefel ab und trieb sie so in das Zimmer nebenan; woraufhin der Nachbar beleidigt zu reagieren pflegte und seinerseits sein Zimmer einschwefelte, um die Wanzen wieder zurückzutreiben.

Erledigt in Paris und London, Diogenes Verlag, Zürich, 1978, S.8-9.

Orelie: Wen hatten Sie denn als Nachbarn?

George Orwell: Ausländer zumeist, die für gewöhnlich ohne Gepäck kamen, eine Woche blieben und dann wieder verschwanden. Sie kamen aus allen erdenklichen Berufssparten – Schuhflicker, Maurer, Steinmetze, Kanalarbeiter, Studenten, Prostituierte und Lumpensammler.

Erledigt in Paris und London, S.9.

Orelie: Besaßen die Bewohner des Hotels bestimmte Angewohnheiten oder Marotten, an die Sie sich erinnern?

George Orwell: Es gab exzentrische Typen in diesem Hotel. Die Slums von Paris sind überhaupt ein Sammelbecken für alle Arten exzentrischer Leute – Leute, die in vereinsamte, halbverrückte Lebensbahnen geworfen worden waren und aufgegeben hatten, normal oder gepflegt sein zu wollen. Die Armut befreit sie von den gewöhnlichen Normen des Verhaltens.

Erledigt in Paris und London, S.10.

Orelie: Ihre Erfahrung der Armut, ist es Ihnen möglich, sie eindringlich zu beschreiben?

George Orwell: Es ist das so besonders Erniedrigende, das man an der Armut zu allererst bemerkt; die Veränderungen, denen sie einen unterwirft, die komplizierte Filzigkeit, das Entkrusten. Man entdeckt beispielsweise die Geheimniskrämerei, die mit dem Armsein eng verbunden ist. Plötzlich und auf einen Schlag ist man auf ein Tageseinkommen von sechs Francs reduziert worden. Aber natürlich wagt man das nicht zuzugeben. Man entdeckt, was es bedeutet, Hunger zu haben. Den Magen mit Brot und Margarine zugestopft, geht man auf Schaufensterbummel. Man entdeckt die mit der Armut untrennbar verbundene Langeweile; die Zeiten, in denen man nichts zu tun hat und in denen man, weil man unterernährt ist, für nichts Interesse hat. Man entdeckt, dass ein Mensch, der eine ganze Woche hintereinanderweg immerhin von Brot und Margarine gelebt hat, kein Mensch mehr ist, sondern nur noch ein Bauch mit einigen organischen Accessoires drumherum.

Erledigt in Paris und London, S.26.

Orelie: Das war alles andere als ein Prinzendasein. Zum Glück kannten Sie einen Freund, einen Russen namens Boris, der zwar genauso abgebrannt und bedürftig wie Sie war, aber mit dem Sie gemeinsam nach einer Arbeit suchten, denn das Geld, das Sie für Nachhilfestunden in Englisch erhielten, reichte hinten und vorne nicht. Sie mussten sogar so manches Kleidungsstück verpfänden. Für zwei schäbige Mäntel erhielten sie fünfzig Francs, weil man Ihre Nummer mit einer anderen verwechselt haben musste. Beschreiben Sie, was Sie und Boris mit dem erstandenen Geld machten.

George Orwell: Ich warf die Fünfzig-Francs-Note auf den Tisch. Boris wurde kalkweiß, sprang auf und ergriff meine Hand, dass ich dachte, mir würden sämtliche Knochen brechen. Wir rannten hinaus, besorgten Brot und Wein, ein Stück Fleisch und Spiritus für den Ofen und fraßen.

Erledigt in Paris und London, S.60.

Orelie: Und dann fanden Boris und ein wenig später auch Sie eine Arbeit im Hôtel X. am Place de la Concorde; diese Arbeit war aber sehr schwer.

George Orwell: Ich rechnete mir aus, dass man pro Tag rennend und laufend leicht zwanzig, fünfundzwanzig Kilometer zurücklegte, und doch war die Belastung weit mehr seelischer als körperlicher Art. Nichts mag, oberflächlich betrachtet, leichter sein als diese stupide Küchenjungenarbeit, wirklich hart aber ist sie, wenn es um jede Sekunde gehen muss. Man muss ständig zischen vielen Arbeitsgängen hin und her hasten – es ist, als sortiere man ein Kartenspiel nach der Uhr. Zum Beispiel ist man gerade dabei, eine Scheibe Toast zu machen, als peng! der Fahrstuhl mit einer Bestellung für Tee, Brötchen und drei verschiedene Arten Marmelade herunterkommt. Und gleichzeitig, peng!, kommt noch einer, für den man Rührei, Kaffee und Grapefruit anliefern soll; man läuft in die Küche, um die Eier zu holen und ins Esszimmer, um das Obst zu holen, das alles wie ein geölter Blitz, damit der Toast nicht verkohlt, bevor man zurück ist – und muss bei alledem auch noch an den Tee und den Kaffee und ein halbes Dutzend andere Bestellungen denken, die noch offen sind.

Erledigt in Paris und London, S.86.

Orelie: Danach wurden Sie Tellerwäscher, plongeur, in einem anderen Hotel, wo die Arbeit und die Umgebung noch viel nerventötender waren.

George Orwell: Das war nicht das wütende Gehaste und Geschrei des Hotels X, sondern eine Atmosphäre aus Unordnung, kleinlichem Ärger und Erbitterung. Unbehagen war die Wurzel all dessen. Es war unvorstellbar eng in der Küche, und Teller mussten einfach auf den Boden gestellt werden, und man musste ständig daran denken, nicht einfach draufzutreten. Das Abwaschen bedeutete wegen der primitiven Ausstattung doppelte Arbeit – ein zu kleines Trockengitter, lauwarmes Wasser, durchnässte Handtücher, und ein Abwaschbecken, das einmal pro Stunde verstopft war. Um fünf fühlten die Köchin und ich uns nicht mehr sicher auf den Füßen, zumal wir seit sieben weder etwas gegessen noch uns auch nur einmal hingesetzt hatten. Wir brachen regelmäßig zusammen, sie auf dem Ascheimer und ich auf dem Boden, tranken dann eine Flasche Bier und entschuldigten uns für einiges, was wir uns am Vormittag an den Kopf geworfen hatten. Tee hielt uns aufrecht. Wir achteten darauf, dass ein Teetopf immer heiß war und tranken während des Tages ganze Liter davon.

Erledigt in Paris und London>, S.146-148.

Orelie: Ihrer Meinung nach konnten solche Ungerechtigkeiten nur fortbestehen, weil die herrschende kulturelle Meinung konservativ war und die Armen quasi verdammte.

George Orwell: Indem er ein düsteres marxistisches Utopia als Alternative voraussieht, bevorzugt es der Gebildete, die Dinge so zu belassen, wie sie sind. Möglicherweise schätzt er seine reichen Standesgenossen nicht sehr, aber dennoch setzt er voraus, dass sogar der gewöhnlichste unter ihnen für seine Vergnügungen weniger gefährlich sei, ihm näher, als der Arme, und dass er besser zu seinesgleichen zu stehen habe. Es ist diese Angst vor dem vermeintlich gefährlichen Pöbel, die fast jeden intelligenten Menschen in seinen Überzeugungen zum Konservativen macht.

Erledigt in Paris und London, S.162.

Orelie: Solche Überzeugungen finden sich in den gebildeten Kreisen, weil diese nie mit den Armen in Berührung kommen.

George Orwell: Das Kreuz ist nur, dass die intelligenten, kultivierten Leute, gerade die Leute, von denen man annehmen sollte, dass sie liberale Ansichten verträten, nie mit Armen umgehen. Denn was weiß denn die Mehrheit gebildeter Leute schon von der Armut? Da wird es ganz natürlich, dass aus solcher Ignoranz gegenüber dem Volk eine eingebildete Angst vor dem Pöbel wird. Der Gebildete stellt sich eine Horde Untermenschen vor, die nur die Freiheit eines einzigen Tages will, um sein Haus zu plündern, seine Bücher zu verbrennen und ihn zur Arbeit an einer Maschine oder als Toilettenmann zu zwingen.

Erledigt in Paris und London, S.163.

Orelie: Einer solchen abstrusen Auffassung stellten Sie eine demokratische Auffassung entgegen. Sie wollten damit zur Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins in der Bevölkerung beitragen. Sie wollten ein Vorwärtsschreiten der Gesellschaft zu mehr Demokratie möglich machen.

George Orwell: Ein plongeur ist ein Sklave, und zwar ein völlig verschwendeter Sklave, der dumme und weitgehend unnötige Arbeit verrichtet. Man hält ihn bei der Arbeit, weil man letztlich eine vage Angst davor hat, dass er gefährlich werden könnte, wenn man ihm Freizeit zugestünde. Und gebildete Menschen, die eigentlich auf seiner Seite stehen sollten, nehmen diesen Prozess ruhig hin, weil sie gar nichts über ihn wissen und eben deshalb Angst vor ihm haben.

Erledigt in Paris und London, S.163-164.

Orelie: So ist nur allzu gut zu verstehen, dass Sie 1937 nach  Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs nach Barcelona gingen, um als Korrespondent zu arbeiten. Sie traten alsbald als Freiwilliger der Miliz der Arbeiterpartei der marxistischen Einheit bei, der sogenannten POUM, die ein Teil der republikanischen Armee war. Eines Tags wurden Sie durch einen Schuss schwer am Hals verletzt, und kurz darauf setzten die Verfolgungen gegen die POUM ein, der vorgeworfen wurde, mit den Faschisten zusammenzuarbeiten. Natürlich war das erfundene Propaganda und Sie konnten zum Glück zusammen mit Ihrer Frau noch rechtzeitig nach Frankreich gelangen. Ihre Erinnerungen an diese Zeit finden sich in Ihrem Buch Mein Katalonien. Und ich danke Ihnen für dieses Gespräch

 

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