Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Albert Camus – Die Revolte

Orelie: Guten Tag, Herr Albert Camus. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Wir wollen über Ihre Auslegung des Begriffs der Revolte sprechen. Was wollen Sie als erstes hierzu sagen?

Albert Camus: Die Bewegung der Revolte ruht auf der dunklen Gewissheit eines guten Rechts, oder genauer auf dem Eindruck des Revoltierenden, ein Recht zu haben auf. In gewisser Weise stellt er der Ordnung, die ihn bedrückt, eine Art Recht entgegen, nicht bedrückt zu werden über das hinaus, was er zulassen kann.

Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1969, S.21

Orelie: Auch verteidigt der Revoltierende gleichzeitig einen Wert.

Albert Camus: Jede Revolte enthält eine völlige und unmittelbare Zustimmung des Menschen zu einem Teil seiner selbst. Er lässt also unausgesprochen ein Werturteil einfließen. Bisher schwieg er zum mindesten, jener Verzweiflung hingegeben, in welcher eine Lebensbedingung, selbst wenn man sie für ungerecht hält, hingenommen wird. Die Verzweiflung beurteilt und begehrt alles im allgemeinen und nichts im bsonderen. Das Schweigen drückt sie gut aus. Doch vom Augenblick an, wo sie spricht, begehrt und beurteilt sie. Wer revoltiert, macht kehrt. Er stellt das Vorzuziehende dem Nichtvorzuziehenden gegenüber. Nicht jeder Wert löst die Revolte aus, doch jede revoltierende Bewegung ruft stillschweigend einen Wert an.

Ibid., S.21-22

Orelie: So kommt es zu einer Bewusstwerdung. Sie erkären dies am Beispiel des Sklaven.

Albert Camus: Eine Bewusstwerdung wächst aus der Bewegung der Revolte: die plötzlich durchbrechende Erkenntnis, dass im Menschen etwas ist, womit der Mensch sich identifizieren kann. Diese Identifizierung wurde bis jetzt nicht wirklich gefühlt. Alle Erpresssungen vor der Aufstandsbewegung hat der Sklave geduldet. Oft hatte er empörendere Befehle erhalten als denjenigen, der seine Weigerung auslöste. Er nahm sie mit Geduld auf, mehr um sein unmittelbares Interesse bekümmert als seines Rechtes schon bewusst. Mit dem Verlust der Geduld beginnt eine Bewegung, die sich auf alles erstrecken kann. Im Augenblick, da er den demütigenden Befehl seines Oberen zurückweist, weist der Sklave auch sein Sklavendasein zurück. Er überschreitet sogar die Grenze, die er seinem Gegner gezogen, indem er jetzt als Ebenbürtiger behandelt zu werden verlangt. Was zuerst ein unbeugsamer Widerstand des Menschen war, wird nun der ganze Mensch, der sich mit ihm identifiziert und sich darin erfüllt. Diesen Teil seiner selbst stellt er nun über den Rest und verkündet laut, ihn allem, selbst dem Leben, vorzuziehen.

Ibid, S.22

Orelie: Er ist also bereit, seinen eigenen Tod in Kauf zu nehmen?

Albert Camus: Wenn das Individuum tatsächlich im Lauf der Revolte den Tod auf sich nimmt, so zeigt es dadurch, dass es sich opfert zugunsten eines Gutes, von dem es glaubt, dass es über sein eigenes Geschick hinausreicht. Es handelt also im Namen eines noch ungeklärten Wertes, von dem es jedoch zum mindesten fühlt, dass er ihm und allen anderen Menschen gemeinsam ist.

Ibid, S.23

Orelie: Können Sie außerdem etwas zu diesem noch ungeklärten Wert sagen?

Albert Camus: Es ist wichtig, dass dieser Wert, der vor jeder Handlung vorausbesteht, den rein historischen Philosophien widerspricht, nach welchen ein Wert erst am Ende einer Handlung gewonnen wird.

Ibid, S.24

Orelie: Herr Albert Camus, Sie haben am Beispiel des Sklaven deutlich gemacht, wie die Revolte zu verstehen ist. Können Sie das weiter ausführen?

Albert Camus: Ein Leibeigener, ein Condottiere der Renaissance, ein Pariser Bürger zur Zeit der Régence, ein russischer Intellektueller um 1900 und ein Arbeiter unserer Tage würden, selbst wenn sie über die Gründe der Revolte uneins wären, ohne jeden Zweifel über ihre Berechtigung einer Meinung sein.

Ibid., S.28

Orelie: Können wir sagen, dass sie einer Meinung sind, weil die Revolte einen gemeinsamen Wert verteidigt?I

Albert Camus: Die Grundlage dieses Wertes ist die Revolte selbst. Die Solidarität der Menschen gründet in der Bewegung der Revolte, und sie findet ihrerseits die Rechtfertigung nur in dieser Komplicenschaft. Um zu sein, muss der Mensch revoltieren, doch muss seine Revolte die Grenze wahren, die sie in sich selbst findet und wo die Menschen, wenn sie sich zusammenschließen, zu sein beginnen. Das Denken der Revolte kann also nich auf das Gedächtnis verzichten, sie ist eine unaufhörliche Spannung. Wenn wir sie in ihren Werken und ihren Taten verfolgen, haben wir jedesmal festzustellen, ob sie ihrem ursprünglichen Adel treu bleibt oder ob sie ihn im Gegenteil, aus Ermattung und Geistesverwirrung, vergisst in einem Rausch von Tyrannei oder Knechtschaft.

Ibid, S.30-31

Orelie: So muss der Wert der Ebenbürtigkeit eines Menschen erhalten bleiben. Hat dies auch eine Auswirkung auf Sie als Schriftsteller?

Albert Camus: Die Kunst ist eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichem. Wenn der aufwühlendste Schrei seinen stärksten Ausdruck findet, tut die Revolte ihrer wahren Forderung Genüge und zieht aus dieser Treue zu sich selbst eine Schöpferkraft.

Ibid, S.307-308

Orelie: Herr Albert Camus, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.