Interview: Brandt~Kohl – Die Wiedervereinigung

Christa, 6 septembre 2014

Orelie: Guten Tag, Herr Helmut Kohl und Herr Willy Brandt. Wir wollen in unserem Gespräch über die Wiedervereinigung Deutschlands sprechen. Sie, Herr Kohl, waren der damalige Bundeskanzler und werden als Vater der deutschen Einheit angesehen. Ende Mai 1988 machten Sie eine private Reise in die DDR, auf der Sie unter anderen Personen auch Ihre Frau Hannelore begleitete. Sie wurden von vielen Menschen in der DDR freudig begrüßt, es kam zu Gesprächen, Händeschütteln, Fotos und Sie verteilten Autogramme. Was waren trotz all dem Ihre Eindrücke?

Helmut Kohl: Selten war mir so drastisch vor Augen geführt worden, wie sehr die Menschen unter dem Überwachungsstaat litten und wie schlecht die Chancen standen, von Deutschland nach Deutschland zu reisen. Es war ein bedrückendes Kapitel der deutschen Teilung und ein deutliches Signal, dass sich die DDR-Oberen etwas einfallen lassen mussten, wenn sie die anschwellende Ausreisewelle in den Griff bekommen wollten.

Helmut Kohl, Erinnerungen 1982-1990, DDR-privat, Amazon kindle

Orelie: Was wollen Sie, Herr Brandt, hierzu sagen?

Willy Brandt: Die Empörung breiter Schichten über die Systeme der Entmündigung und geheimpolizeilichen Drangsalierung brach sich vehement Bahn, als der disziplinierende Druck nachließ, der vom kalten Krieg ausgegangen war. Die elektronischen Medien – von gewaltiger Bedeutung für alles, was mit Glasnost und Demokratisierung zusammenhängt – konnten in die DDR voll ausstrahlen. Und das Wohlstandsgefälle zur Bundesrepublik musste für viele Menschen noch offensichtlicher werden als die Vorzüge des westdeutschen Grundgesetzes. Aber es bestätigte sich auch – bei allem Wandel der Generationen und bei allen im Westen zu verzeichnenden Fortschritten der europäischen Einigung-, dass dem Drang zur nationalen Einheit, also zur Überwindung willkürlicher Trennung, eine elementare Kraft innewohnt.

Willy Brandt, Reden zu Deutschland ”…was zusammengehört”, Dietz Verlag, Bonn, 1990, S.8-9

Orelie: In den ersten sechs Monaten des Jahrs 1989 stiegen die Anträge auf Privatreisen und Ausreisewünsche in die Bundesrepublik drastisch an. Die ungarische Regierung öffnete den aus der DDR flüchtenden Menschen seine Grenzen. Die Botschaften in Prag, Warschau und Ost-Berlin wurden von DDR-Bürgern besetzt, die Asyl beantragten. In den großen Städten der DDR kam es zu Demonstrationen. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Was können Sie zu dem entscheidenden Jahr 1989 sagen?

Willy Brandt: Die ungarische Regierung setzte sich über Ostberliner Einsprüche hinweg. Dass bei den Kommunalwahlen in der DDR im Frühjahr ’89 massiv gefälscht worden war, hatte sich den Menschen tief eingeprägt. Die versprengten oppositionellen Gruppen fanden gerade in diesem Vorgang einen gemeinsamen Bezugspunkt. Kalte Wut lösten dann die Polizeiübergriffe aus, denen – überwiegend jüngere – Demonstranten Anfang Oktober in Berlin, in Dresden und an anderen Orten ausgesetzt waren: Misshandlungen bei der Festnahme und im Gewahrsam der Sicherheitsorgane, Demütigungen junger Frauen und was sonst noch zum Gehabe verunsicherter Landsknechte gehört.

Willy Brandt, Erinnerungen, Ullstein Verlag, November 2003, S.506

Helmut Kohl: Die Bilder und die Äußerungen der Flüchtlinge, die in großer Zahl zu uns kommen, haben mehr als alles andere deutlich gemacht, um was es geht: um Freiheit. Die Fluchtbewegung aus der DDR hielt unvermindert an. Von besonderer Brisanz waren die großen Demonstrationen in Leipzig und Berlin. Dass der Name Krenz für die Deutschen in der DDR nicht für Reformen stand, zeigte sich nicht zuletzt bei der Großdemonstration auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz am 4. November. Mehr als eine halbe Million Menschen nahmen daran teil, darunter viele namhafte, einstmals systemtreue Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler. Es war erstaunlich, wie rasch Leute, die lange Jahre Nutznießer des Regimes gewesen waren, auf die andere Seite überwechselten und an einer Veranstaltung teilnahmen, die zu einer Abrechnung mit den „SED-Bonzen” geriet.

Erinnerungen 1982-1990, Tage der Entscheidung

Orelie: Viele Kirchenleute standen auf der Seite der Menschen, die sich nicht mehr gängeln lassen wollten. Sie hielten Mahnwachen ab und unterstützten festgenommene Landsleute. Sehen Sie das auch so?

Helmut Kohl: Es gab viele großartige Kirchenleute in der DDR, die sehr wohl wussten, wo die Menschen der Schuh drückte. Gerade unter den evangelischen und katholischen Pfarrern hatten sich viele dem SED-Regime nicht angepasst; im Rahmen einer Seelsorge, die diese Bezeichnung auch verdiente, machten sie den Menschen Mut und spendeten ihnen Trost. Nicht wenige von ihnen hatten Anteil an der friedlichen Revolution im Herbst 1989.

Erinnerungen 1982-1990, Erwartungen und Befürchtungen

Willy Brandt: In der DDR spielten vor allem die evangelischen Kirchen eine bedeutende, überwiegend liberale Rolle – eine Mission, die aus der Geschichte deutscher Freiheitsbewegungen nicht mehr wegzudenken sein wird. Sie boten an vielen Orten das Schutzdach, unter dem unterschiedliche bis in den Herbst ’89 hart bedrängte Gruppen ihr Engagement für Menschenrechte und wahrhaftige Information, für Friedenssicherung und für umfassenden Schutz der Natur besprachen und aufeinander abstimmten.

Reden zu Deutschland ”…was zusammengehört”, S.9

Orelie: „Wir sind das Volk” war der Ruf, mit dem die Menschen die Machthaber in der DDR ablösen wollten, und nicht nur in der DDR war dieser Ruf zu hören.

Helmut Kohl: Niemand konnte damals wissen, wohin dieser Aufbruch in Mittel- und Osteuropa am Ende führen könnte. Aber jeder konnte spüren, dass dies eine Stunde von historischer Bedeutung war. Der Eiserne Vorhang, der Europa seit fast vier Jahrzehnten trennte, hatte sich ein entscheidendes Stück gehoben. Damit war Deutschland auf seinem Weg zur Einheit in Frieden und Freiheit einen wichtigen Schritt vorangekommen.

Erinnerungen 1982-1990, Gescheiterter Putsch

Willy Brandt: Die Menschen, die Völker im ganzen bisherigen Ostbock haben gesagt: Jetzt reicht es! Wir sind das Volk! – und weg mit den Regimen der Entmündigung und der Entwürdigung! Das haben sie in Warschau gesagt, das haben sie in Budapest gesagt, und in Prag, und nicht zuletzt in der DDR.

Reden zu Deutschland ”…was zusammengehört”, S.125

Orelie: Herr Kohl, am 13. Juni 1989 unterzeichneten Sie mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow in Bonn eine Erklärung, in der festgehalten wurde, „dass jeder Staat das Recht habe, das eigene politische und soziale System frei zu wählen”. Diese Erklärung fand in Ihrer Ansprache zur Deutschlandpolitik vom 22. August 1989 ihren Platz. Können Sie einige Sätze daraus zitieren?

Helmut Kohl: Die Entwicklung der letzten Wochen hat deutlich gemacht, dass die deutsche Frage nach wie vor auf der Tagesordnung der internationalen Politik steht. Der Wille der Deutschen zur Einheit in Freiheit ist ungebrochen. Was die Lösung der deutschen Frage betrifft – hier sind nicht nur die Deutschen allein gefordert. Hierbei vertrauen wir vor allem auch auf die besondere Verantwortung der drei Westmächte. Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander ist aber zugleich ein wesentliches Element der Stabilität in Europa, das alle europäischen Staaten berührt. In der Gemeinsamen Erklärung, die Generalsekretär Gorbatschow und ich am 13. Juni 1989 in Bonn unterzeichnet haben, sprachen wir von der vorrangigen Aufgabe unserer Politik, zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen. Die jetzige Lage beweist die Dringlichkeit dieser Aufgabe.

Erinnerungen 1982-1990, Eskalation,

Willy Brandt: Es kam zu der neuen Lage, weil der Westen an unserer Seite blieb und seine starken Seiten unübersehbar wurden. Es kam auch zu der großen Veränderung, weil es inzwischen in der Sowjetunion eine moderne und aufgeschlossene Führung gibt. Damals wusste die Ostberliner Spitze natürlich, dass wir begonnen hatten, über den Vertrag zu verhandeln, den ich im August 1970 in der sowjetischen Hauptstadt unterzeichnet habe, übrigens bei Hinterlegung jenes „Briefes zur Deutschen Einheit”, durch den wir – in einem Europa des Friedens – unser Recht auf Selbstbestimmung, um als ein Volk wieder zusammenzukommen, eindeutig festhielten.

Reden zu Deutschland ”…was zusammengehört”, S.125-126

Orelie: Am 18. November 1990 waren die ersten freien Wahlen in der DDR. Herr Kohl, Sie unterstützten die Allianz für Deutschland, die mit 48 Prozent der Stimmen als klarer Sieger aus den Wahlen hervorging, während die SPD nur 21,9 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Was wollen Sie zu diesem Ergebnis sagen?

Helmut Kohl: Mit diesem Votum hatte die große Mehrheit der Wähler in der DDR ein klares Signal dafür gegeben, die Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu vollenden. Das war für mich das allerwichtigste Ergebnis dieser Wahl. Und ich war stolz darauf.

Erinnerungen 1982-1990, Überwältigender Sieg

Willy Brandt: Ich habe mit einem anderen Ausgang gerechnet. Der Erfolg der CDU bzw. der „Allianz” beruht in erster Linie darauf, dass sie als diejenige Gruppierung erschien, von der – stellvertretend für die Regierungsspitze in Bonn – umgehend die staatliche Einheit und noch im Vorlauf eine wirtschaftliche Belebung mit Angleichung des Lebensstandards zu erwarten sei. Zum wahlentscheidenden Argument wurde, dass das Geld aus Bonn nur fließen werde, wenn sich die Wähler Bonn-konform verhielten.

Reden zu Deutschland ”…was zusammengehört, S.151-153

Orelie: Was wollen Sie beide abschließend sagen?

Willy Brandt: Jetzt ist das füreinander Einstehen der Deutschen erste Bürgerpflicht. Und gemeinsame Institutionen, die schleunigst auf den Weg bringen, was nicht aufgeschoben werden darf – von der Währung bis hin zum sozialen Netz. Nicht um hektischen Anschluss geht es, sondern um vernünftigen Zusammenschluss. Was zusammenwächst, weil es zusammengehört, will nicht dem Chaos ausgesetzt, sondern pfleglich behandelt sein.

Reden zu Deutschland ”…was zusammengehört, S.119

Helmut Kohl: Am Vorabend der Wahl ging ich mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, um die Bedeutung dieses Ereignisses herauszustellen: „Die Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland zu einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Bundesstaat ist die Herausforderung der Stunde. Die Wahl zur Volkskammer der DDR ist eine Schicksalswahl für ganz Deutschland. Jeder wahlberechtigte Bürger in der DDR ist aufgerufen, sein Wahlrecht zu nutzen und mitzubauen an einer besseren Zukunft in seiner Heimat, mitzubauen an einem freien und geeinten Deutschland in einem freien und geeinten Europa.”

Erinnerungen 1982-1990, Überwältigender Sieg

Orelie: Herr Willy Brandt und Herr Helmut Kohl, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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