Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Albert Camus~Karl Rahner~Tennessee Williams – « Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? »

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Orelie:Ich heiße die Schriftsteller Albert Camus und Tennessee Williams sowie den Theologen Karl Rahner herzlich willkommen. In unserem Gespräch werden wir auf den Ausruf Jesu am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” zu sprechen kommen. Herr Williams, beginnen wir mit Ihrer Novelle, der Sie den tiefsinnigen Titel Der Fluch gegeben haben. Lucio, der auf der Suche nach einer Arbeit in einer ihm fremden Stadt ist, fühlt sich einsam, bis er der ausgesetzten Katze Nitschewo begegnet. Können Sie das Zusammentreffen der beiden und Lucios Gefühle beschreiben, die er Nitschewo sogleich entgegenbringt?

Tennessee Williams: Sie war das erste Lebewesen in der wildfremden Stadt des Nordens, das dem fragenden Blick seiner Augen zu antworten schien. Sie sah ihm mit dem Ausdruck herzlichen Wiedererkennens entgegen. Fast glaubte er zu hören, wie sie ihn beim Namen rief. « Ach so, du bist es, Lucio! Ich habe hier gesessen und auf dich gewartet – eine lange, lange Zeit! » Lucio antwortete ihr mit einem Lächeln und wandte sich der Treppe zu, auf der sie saß. Die Katze rührte sich nicht. Aber sie schnurrte ganz leise. Es war ein kaum noch wahrnehmbares Geräusch, ein fast nicht mehr zu spürendes Vibrieren im fahlen Licht eines Nachmittags. Ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten nicht, sie zogen sich ganz leicht im Vorgefühl der nun folgenden Berührung zusammen. Seine Hand strich über das weiche Fell ihres Köpfchens und glitt den knochigen Rücken hinunter: unter seiner Hand spürte er das ganz schwache Beben des schnurrenden Tieres, das ein wenig den Kopf hob, um ihn anzustarren. Eine weibliche Bewegung, die Geste einer Frau, die den Liebhaber, der sie umarmt, ansieht. Mit einem versunkenen glanzlosen Blick, unbestimmt – selbstverständlich wie das Atmen.

Tennessee Williams, Der Fluch, in: Glasporträt eines Mädchens, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1988, S.5-6

Orelie: Lucio findet für sich und die Katze ein Zimmer in Untermiete und auch eine Fließbandarbeit. Aber ihn quält der Gedanke, wieder gekündigt zu bekommen. Wodurch kann Nitschewo ihn beruhigen?

Tennessee Williams: Nitschewos Gegenwart bannte all die drohenden Möglichkeiten des Zufalls. Man sah doch, in Nitschewos Welt gab es keinen Zufall. Sie glaubte, dass sich alles nach einer natürlichen vorbestimmten Ordnung entwickelt und man sich über nichts Sorgen machen müsse. Alle ihre Bewegungen waren langsam und ohne Aufregung. Sie wurden mit vollendeter Grazie ausgeführt. Jeden Gegenstand betrachteten ihre bernsteingelben Augen mit Ernst und ohne zu blinzeln. Jeden Abend brachte Lucio einen Viertelliter Milch mit für ihre Abendmahlzeit und ihr Frühstück: Nitschewo saß dann ruhig abwartend auf ihren Hinterbeinen, während er die Milch in die angestoßene Untertasse goss. Ehe sie sich an ihr Fressen machte, blickte sie noch einmal mit ihren gelben, nie flackernden Augen gemessen zu ihm auf, streckte die glänzende, rote Zungenspitze heraus und neigte anmutig das kleine Köpfchen über den Teller. Er sah ihr zu und Friede zog durch sein Gemüt. Die harten Verkrampfungen der Angst lockerten und lösten sich. Der Druck und die Unsicherheit, die er tief in seinem Innern spürte, waren vergessen und sein Herz schlug ruhiger. Müdigkeit befiel ihn, wenn er der Katze zusah – wohlige Müdigkeit. Die Katze schien ins Riesengroße zu wachsen und der Raum schrumpfte und wurde unwirklich. Dann schienen Nitschewo und er gleich groß zu sein. Er war eine Katze wie sie, Seite an Seite hockten sie auf dem Boden und schlapperten Milch in der angenehmen, sicheren Wärme eines geschlossenen Raumes.
Ibid, S.11,12

Orelie: Um was beneidet Lucio die Katze?

Tennessee Williams: Das Haus war warm,Teppiche und Kissen waren weich. Sie ruhte in vollkommener Zufriedenheit, einer Zufriedenheit, die Lucio nur des Nachts gewährt war, bei ihr aber Tag und Nacht anhielt- die niemals zerstört wurde. Nitschewo als Katze existierte nur in dem gegenwärtigen und vergänglichen Augenblick der Zeit, und der war gut. Nitschewo ahnte nicht, dass dieses seltsame Konglomerat von Materie, das wir Erde nennen, gefährlich schnell dahinwirbelt und eines Tages unerwartet aus seinem eigenen ungeheuren Schwung fallen und in tausend Splitter der eigenen Katastrophe bersten würde. Nitschewo schnurrte unter Lucios Hand in absoluter Verkennung aller Umstände, die ihrer beider Existenz bedrohten.

Glasporträt eines Mädchens, S.16-17

Orelie: Sie, Herr Karl Rahner schreiben auch, dass der Mensch in seiner Existenz immer  bedroht ist.

Karl Rahner: Die Erde, unsere große Mutter, ist selbst bekümmert. Sie gebiert Kinder, die sterben, die zu schwach sind, um immer zu leben, und zu viel Geist haben, um anspruchslos auf die ewige Freude verzichten zu können, weil sie, anders als die Tiere der Erde, schon das Ende sehen, bevor es da ist, und ihnen die wache Erfahrung des Endes nicht mitleidig erspart wird.

Karl Rahner Glaube, der die Erde liebt, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, April 1967, S.64

Orelie: Herr Albert Camus, was können Sie zu dem Vorgebrachten sagen?

Albert Camus: Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über sie hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne. Was bedeutet mir ein Sinn, der außerhalb meiner conditio liegt? Ich kann nur auf menschliche Weise etwas begreifen. Wäre ich Katze inmitten der Tiere, dann hätte dieses Leben einen Sinn oder dieses Problem hätte vielmehr keinen, denn ich wäre Teil dieser Welt.

Albert Camus Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2004, S.69-70

Orelie: Herr Williams, kommen wir auf Ihre Erzählung zurück. Lucio verliert seine Arbeit, wird verhaftet und kehrt erst nach einer Woche wieder heim. Aber in der Zwischenzeit hat die Wirtin sein ehemaliges Zimmer weitervermietet und die Katze Nitschewo hinausgeschmissen. Wird Lucio sie wiedersehen?

Tennessee Williams: Und nun begegnete ihm noch einmal und zum allerletzten Mal in seinem Leben etwas Großes und Gnadenvolles: Gottes Hand. Schräg gegenüber, wo eine Gasse mündete, sah er plötzlich die hinkende und merkwürdig verunstaltete, verloren geglaubte Gefährtin.  Die Katze! Ja! Nitschewo! Er blieb ganz still stehen und ließ seine Freundin herankommen. Sie kam mit großer Mühe. Es zog sie unwiderstehlich zueinander, obwohl der Körper der Katze fast den Dienst versagte. Denn sie war schwer verletzt, sie konnte sich kaum bewegen. Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten ihn wie immer zurückhaltend, aber würdevoll und mit einer Ergebenheit, die keine Fragen stellt, an, als sei er nach nur wenigen Minuten Abwesenheit zurückgekehrt und nicht nach Tagen und Tagen des Hungers, des Unglücks, der Kälte.

Glasporträt eines Mädchens, S.22

Orelie: Lucio sieht als Ausweg für sich und die verletzte und bis auf die Knochen abgemagerte Katze nur noch den Freitod.

Tennessee Williams: Einen einzigen Augenblick nur wehrte sich die Katze gegen ihn: schlug in einem Augenblick des Zweifels ihre Krallen in seine Schulter und in seinen Arm. Mein Gott, mein Gott, warum hast DU mich verlassen? Dann ebbte die Erregung ab, und Vertrauen kehrte wieder. Der Fluss trug sie beide fort.

Glasporträt eines Mädchens, S.23

Orelie: Sie, Herr Camus lehnen in Ihrem Essay Die absurde Freiheit den Selbstmord als Ausweg aus unserer Not ab.

Albert Camus: Es geht darum, unversöhnt und nicht aus freiem Willen zu sterben. Der Selbstmord ist ein Verkennen. Der absurde Mensch hat nur die eine Möglichkeit, alles auszuschöpfen und sich selbst zu erschöpfen.

Der Mythos des Sisyphos, S.74

Orelie: Und wie erklären Sie den Ruf Jesu am Kreuz Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Albert Camus: Der Gottmensch leidet auch, und mit Geduld. Die Nacht von Golgatha hat nur darum für die Geschichte der Menschen soviel Bedeutung, weil in ihrem Dunkel die Gottheit, sichtbar auf alle hergebrachten Privilegien verzichtend, bis zu ihrem Ende, alle Verzweiflung eingeschlossen, die Todesangst durchlebt. So erklärt sich das Lama asabthani und Christi grauenhafter Zweifel in der Agonie.

Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2006, S.45

Orelie: Was wollen Sie, Herr Rahner auf das Gesagte antworten?

Karl Rahner: Der, der Jesus liebt, liebt ja den, dessen Geschick er in dieser Liebe teilen will und, gerade wenn er dieses tut, ergibt er sich in Jesu Todesschicksal. Er ist bereit, alles mit dem sterbenden Herrn in die Unbegreiflichkeit Gottes hineinfallen zu lassen. Die ganze Welt und sich selbst. Schweigend und bedingungslos, auch wenn dieser Gott finsterer zu sein scheint als die Absurdität etwa bei Camus.

Karl Rahner, Was heißt Jesus lieben?, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1982, S.67-68

Orelie: Können Sie das präzisieren?

Karl Rahner: Wir glauben an Jesus, den Christus, d.h. an die in seinem Leben glaubwürdig ergangene Selbstzusage Gottes in Vergebung und ewigem Leben. Niemand zwingt uns zu dieser glaubenden Annahme. Diese Antwort beantwortet uns nicht die tausend Fragen einzelner Art, die uns unser Leben stellt. Alle diese Fragen des Lebens laufen schließlich in die eine Frage zusammen, die durch den Tod in unserem Leben gestellt wird. Wir haben aber den Mut glaubender Hoffnung, mit Jesu Tod in den Abgrund Gottes zu fallen als in unsere eigene Endgültigkeit, Heimat und unser ewiges Leben. Weil man eigentlich nur mit ihm getrost sterben kann und weil man auch dann noch mit ihm stirbt, wenn man, ohne ihn ausdrücklich zu kennen, sich gelassen und hoffend dem Geheimnis des Lebens ergibt. Darum können wir auch jetzt getrost mit ihm dieses Leben leben, das schon immer vom Geheimnis des Todes durchwaltet ist.

Karl Rahner, Wagnis des Christen, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1974, S.47-48

Orelie: Ich danke Ihnen allen drei für dieses Gespräch.