Interview: Camus~Rahner – das Böse

Christa, 29 juillet 2013

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Orelie: Ich danke Ihnen, Herr Albert Camus und Herr Karl Rahner, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Herr Camus, in Ihren Werken taucht häufig das Wort Wahrheit auf, die dem Menschen sein Dasein in dieser Welt bewusst werden lässt, und die in Ihrem Roman Der Fall ein Schrei bleibt, der ihn sein Leben lang verfolgt. Können Sie die Stelle dieser Bewusstwerdung in Ihrem Roman zitieren?

Albert Camus: Da merkte ich – ohne mich aufzulehnen, wie man sich mit einem Gedanken abfindet, dessen Wahrheit man seit langem erkannt hat -, dass jener Schrei, der Jahre zuvor in meinem Rücken auf der Seine ertönte, aus dem Fluss in den Ärmelkanal getrieben war und nicht aufgehört hatte, über die unermessliche Weite der Meere hinweg durch die Welt zu geistern, dass er auf mich gewartet hatte bis zum Tag, da ich ihm wieder begegnen würde.

Albert Camus, Der Fall, Rowohlt Verlag, Sonderausgabe Januar 2010, S.126

Orelie: In diesem Roman bemerkte Jean-Baptiste Clamence, der Ich-Erzähler, eines Nachts auf dem pont Royal eine Frau, die er nicht vor dem Selbstmord bewahrt, und so vernahm er das Aufklatschen ihres Körpers auf das Wasser der Seine und danach mehrmals einen Schrei, dem er von da an nicht mehr entgehen kann. Dieser Schrei ist zugleich ein Sinnbild für das Bittere des menschlichen Daseins, wie das Leid, die Trauer und den Tod. Was können Sie, der Theologe Karl Rahner hierzu sagen?

Karl Rahner: Oh, der Mensch kann hingehen, wohin er will, kann Ausweichlager seines Glückes schaffen, wo er will, kann sich in die ganze Welt zerstreuen. Plötzlich merkt er wieder, dass er nur hastig im Kerker seines Lebens herumlief, dass er aus einem Loch seines verschütteten Kellers ins andere kroch und dass sich dabei alles in der einen Gefangenschaft abspielte, dass er verhaftet bleibt, verhaftet bleibt in und an die Endlichkeit, an die Vergeblichkeit, an den Alltag, an die Enttäuschung, an das Gerede, an die Erbärmlichkeit, an die hoffnungslosen Versuche, die wir das menschliche Leben nennen.

Karl Rahner, Von der Not und dem Segen des Gebetes, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1977, S.14-15

Orelie: Sie, Herr Albert Camus lehnen sich gegen die Lebensbedingungen des Menschen und die ganze Schöpfung auf, was Sie in Ihrem Werk Der Mensch in der Revolte in dem Kapitel Die metaphysische Revolte deutlich zum Ausdruck bringen. Können Sie diese Art von Revolte beschreiben?

Albert Camus: Die metaphysische Revolte ist die Bewegung, mit der ein Mensch sich gegen seine Lebensbedingung und die ganze Schöpfung auflehnt. Der metaphysisch Revoltierende erhebt sich in einer zertrümmerten Welt, um ihre Einheit zu fordern. Er stellt das Prinzip der Gerechtigkeit, die in ihm ist, dem Prinzip der Ungerechtigkeit gegenüber, das er in der Welt wirken sieht. Indem sie protestiert gegen das, was der Tod an Unvollendetem und das Böse an Zerrissenem ins Dasein bringen, ist die Revolte die begründete Forderung einer glücklichen Einheit gegen das Leid des Lebens und des Sterbens. Wenn die allgemein gewordene Todesstrafe die Lebenslage der Menschen bestimmt, so ist die Revolte in einem Sinn ihre Zeitgenossin. Zu gleicher Zeit, da der Revoltierende sich gegen seine Sterblichkeit verwahrt, weigert er sich, die Macht anzuerkennen, die ihn darin leben lässt. Wer metaphysisch revoltiert, ist also nicht unweigerlich ein Gottesleugner, wie man glauben könnte, aber er ist notwendigerweise ein Gotteslästerer. Nur lästert er zuerst im Namen der Ordnung, indem er in Gott den Vater des Todes und den größten Skandal aufdeckt.

Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2006, S.35-36

Orelie: Das sind harte Vorwürfe, die Gott gemacht werden. Was haben Sie, Pater Rahner, darauf zu antworten?

Karl Rahner: Hat Gott zu beweisen, dass Er gut und heilig ist, oder nicht vielmehr ihr, dass ihr auch liebet ohne Lohn und ohne Lebensversicherung? Woher wisst ihr, dass alle Sterne erlöschen, wenn es nach eurem Eindruck bei euch finster wird? Woher wisst ihr, dass Ihr ins Bodenlose fallet, wenn ihr nicht mehr wisset, woran ihr euch halten sollt? Woher wisst ihr, dass Er nicht ist, wenn ihr Ihn nicht mehr greifen und begreifen könnt?

Von der Not und dem Segen des Gebetes, S.71-72

Orelie: Und was können Sie zu dem Bösen in der Welt sagen?

Karl Rahner: Wenn Sie mich fragen: „Warum lässt Gott so viel Böses in der Welt zu?” Dann muss ich gestehen: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es einen unendlich guten und heiligen Gott gibt. Aber wie die Tatsache des Bösen in der Welt, wie Auschwitz und andere Dinge damit vereinbar sind, weiß ich nicht. Eines aber weiß ich: Wenn Sie aus Protest gegen das Böse in der Welt Gott aus Ihrem Leben streichen wollen, wird die Geschichte noch viel schlimmer, denn dann haben Sie eine abgründig böse und absurde Welt und sonst nichts. Wenn Sie das im Namen der Liebe zu anderen wirklich verantworten können – gut, aber ich glaube nicht, dass man das kann.

Karl Rahner, Glaube in winterlicher Zeit, Patmos Verlag, Düsseldorf, 1986, S.146-147

Orelie: Ich danke Ihnen beiden für dieses Gespräch.

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