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Interview: Kurt Sontheimer – Hannah Arendt

Orelie: Guten Tag, Herr Kurt Sontheimer, ich freue mich, dass Sie meine Einladung zu diesem Gespräch angenommen haben und so wollen wir von der politischen Theoretikerin Hannah Arendt sprechen. Sie wurde am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und zog bald darauf mit ihren Eltern nach Königsberg. Ihr Vater starb, als sie erst sieben Jahre alt war. Hannah Arendt war eine ausgezeichnete Schülerin und las schon als junges Mädchen philosophische Bücher. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sie nach dem Abitur Philosophie und als Nebenfächer Griechisch und evangelische Theologie studierte. Sie ging an die Universität in Marburg, wo der Philosoph Martin Heidegger lehrte. Wie entwickelte sich ihr Studium?

Kurt Sontheimer: Die Marburger Studienzeit Hannah Arendts ist jedoch extrem kurz. Das hat mit dem Mann zu tun, dessentwegen sie an diese Universität gegangen war, Martin Heidegger. Die Studentin verliebt sich in den sie begeisternden Philosophen, und dieser erwidert ihre Liebe, jedoch unter so schwierigen, vor jeder Entdeckung zu schützenden äußerlichen Bedingungen, dass sie es in Marburg nicht lange aushält und 1925 für ein Semester nach Freiburg geht. Hier lehrt der große Philosoph Edmund Husserl. Doch sie bleibt nicht lange in Freiburg, sondern zieht 1926 weiter nach Heidelberg zu dem ebenfalls vielbeachteten modernen Philosophen Karl Jaspers, der sie als seine Doktorandin annimmt.

Kurt Sontheimer, Hannah Arendt – Der Weg einer großen Denkerin, Piper Verlag, München, 2005, S.28-29

Orelie: Nach ihrer Promotion im Jahr 1928 bei Karl Jaspers erhielt Hannah Arendt ein Stipendium, um eine Studie über das Leben der von 1771-1833 in Preußen lebenden Jüdin Rahel Varnhagen zu erarbeiten. In dieser Forschungsarbeit beschäftigte sich Hannah Arendt mit der deutsch-jüdischen Assimilation. Zur selben Zeit heiratete sie Günther Stern, der wie sie Philosophie studiert hatte. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Januar 1933 wurde sich Arendt des stark zunehmenden Antisemitismus auch in Universitäts Kreisen bewusst. Sie selbst wurde im Juni 1933 von der Gestapo verhaftet und kam einige Tage in ein Berliner Gefängnis. Nach ihrer Entlassung ergriff sie die Flucht und schaffte es nach Paris zu gelangen. Diese schlimmen Ereignisse führten zu einem Umdenken in Hannah Arendts Leben.

Kurt Sontheimer: So führte im Falle der Hannah Arendt die politische Bewusstseinsbildung einerseits zu einem Abschied aus der philosophisch-akademischen Welt, in der sie sich eine Zeitlang so wohl gefühlt hatte, andererseits zu ihrer Bereitschaft, nun selbst praktisch politisch tätig zu werden.

Ibid, S.38

Orelie: Nachdem das nationalsozialistische Deutschland 1940 das nördliche Frankreich besetzte und die Vichy-Regierung im südlichen Teil mit den Nazis kollaborierte, wurde auch Hannah Arendt verhaftet. Sie kam schließlich in das Lager Gurs, einem Ort in den Pyrenäen. Es gelang ihr zusammen mit einigen anderen Frauen zu fliehen und bis nach Montauban zu kommen. Dort traf sie Heinrich Blücher, einen kommunistischen und anarchistischen Autodidakten, den sie 1936 in Berlin kennengelernt hatte und den sie nun nach ihrer Scheidung von Günther Stern im selben Jahr 1940 heiratete. Auch ihre Mutter konnte nach Montauban fliehen. Mit Hilfe von Hannah Arendts Kontakten zu jüdischen Organisationen erreichten die drei Lissabon. Von dort aus konnten ihr Mann und sie im Frühjahr 1941 ein Schiff nehmen, das sie in die USA brachte. Hannah Arendts Mutter kam kurze Zeit später nach. Nun waren alle drei in Sicherheit, aber ihr Zusammenleben gestaltete sich schwierig, weil Heinrich Blüchers sozial einfache Herkunft bei Hannahs Mutter auf Vorbehalte stieß. Deshalb nahm sie im Jahr 1948 ein Schiff, um zu ihrer Stieftochter nach London zu ziehen. Doch starb Martha Arendt während der Überfahrt an einem Asthmaanfall. Hannah Arendt war zu der Zeit beim Schreiben ihres bekannten Werkes The Origins of Totalitarianism, das 1951 erschien. Karl Jaspers schrieb für die 1955 veröffentlichte deutsche Fassung Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ein Geleitwort. Was können Sie zu Hannah Arendts Auffassung des Politischen sagen, die auch in diesem Buch zum Ausdruck kommt?

Kurt Sontheimer: Immer wieder ist daran zu erinnern, dass Hannah Arendt ausgegangen war von der Erfahrung, dass in den totalitären Systemen das Politische als Handeln in Freiheit total zerstört worden war. Sie sah ihre Aufgabe als politische Theoretikerin nicht nur in der Aufdeckung und Deutung der Vorgänge, die zu diesem ungeheuerlichen Ergebnis in der Geschichte der Menschheit geführt hatten, sondern in der Erarbeitung einer heilenden Gegenposition, die dazu verhelfen sollte, den in der Entwicklung der Moderne zutage getretenen Gefahren und Bedrohungen durch begründete Einsichten und ein angemessenes Verhalten zu begegnen. Es waren zwei grundlegende theoretische Positionen, die ihren beherzten Versuch, dem richtig verstandenen Politischen wieder einen Raum in unserer Welt zu eröffnen, zugrunde lagen. Die erste war die nicht zu bestreitende Tatsache, dass wir es in der Wirklichkeit nicht mit dem Mensch im Singular, sondern den Menschen im Plural zu tun haben. Die zweite nachhaltige Überzeugung war ihr Glaube, dass Politik und Freiheit einander bedingen, dass sie zusammengehören und zu diesem Behuf einen Raum brauchen, in dem die Menschen frei miteinander reden und miteinander handeln können.

Ibid., S.101-102

Orelie: Wie schätzte Hannah Arendt die These von einem deutschen Sonderweg in der Geschichte ein, der die nationalsozialistische Machtergreifung erst möglich machte?

Kurt Sontheimer: Hannah Arendt verwirft alle Versuche , den Nationalsozialismus und seine Verbrechen aus der deutschen Geschichte oder dem sogenannten deutschen Nationalcharakter herzuleiten.

Ibid., S.141

Orelie: Was fiel Hannah Arendt bei ihren Besuchen im Nachkriegsdeutschland besonders auf?

Kurt Sontheimer: Hannah Arendt beginnt mit einer eindrucksvollen Schilderung der Situation Deutschlands nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg: „In weniger als sechs Jahren zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt, und zwar durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte. Der Anblick, den die zerstörten Städte in Deutschland bieten, und die Tatsache, dass man über die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Bescheid weiß, haben bewirkt, dass über Europa ein Schatten tiefer Trauer liegt. Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen nur ein Achselzucken übrig haben, oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.”

Ibid.,S.143-145

Orelie: Wie hat Hannah Arendt Jahre später die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland beurteilt?

Kurt Sontheimer: Hannah Arendt hat sich über die Qualität der Demokratie in der Bundesrepublik später kaum noch öffentlich geäußert. Sie wird bei aller Skepsis die im großen und ganzen gelungene politische Stabilisierung der Bundesrepublik als Demokratie begrüßt haben.

Ibid., S.148

Orelie: Hannah Arendt musste mit dem Tod Karl Jaspers im Februar 1969 und dem ihres Mannes Heinrich Blücher im Oktober 1970 fertig werden. Sie selbst starb am 4. Dezember 1975 in New York. Was wollen Sie abschließend sagen?

Kurt Sontheimer: Trotz dieser Verluste, an denen sie schwer zu tragen hatte, wusste Hannah Arendt sich stets von guten Freunden umgeben und umsorgt. Da ist ja nicht nur die Denkerin Hannah Arendt mit ihrem eigenen Beitrag zur politischen Theorie, da ist auch die kritische Beobachterin des politischen Lebens mit ihren großen Aufsätzen zur Politik und ihren aktuellen politischen Kommentaren, in denen sie offen Partei ergreift für das, was ihr richtig und notwendig dünkt. Hannah Arendt hat immer für sich selbst gedacht und geurteilt und nicht nach Beifall geschielt. Sie wusste sich zu wehren, wenn sie angegriffen wurde; ihre Unabhängigkeit war ihr wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer Richtung oder Gruppe. Hinter diesem eigenen Denken stand Hannah Arendt als eine Persönlichkeit mit der „Leidenschaft der Existenz selbst.” Ihre Größe lag in ihrer menschlichen Qualität.

Ibid., S.271-272

Orelie: Herr Kurt Sontheimer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch