Interview: Böll – der Zug war pünktlich

Christa, 29 août 2013

gesetz

Orelie: Herr Heinrich Böll, ich heiße Sie herzlich willkommen zu diesem Gespräch, in dem wir uns über Ihren ersten veröffentlichten Roman Der Zug war pünktlich unterhalten werden. In diesem Roman beschreiben Sie insbesonders die Wahrnehmungen und den Gefühlszustand eines jungen Soldaten namens Andreas. Sie selber mussten 1939 Ihr gerade erst begonnenes Studium der Germanistik und der klassischen Philologie in Köln abbrechen, weil Sie in die Wehrmacht eingezogen wurden. Während des Kriegs wurden sie mehrfach verwundet, mussten aber immer wieder zurück zur Infanterie. Andreas, der Ich-Erzähler muss zu Beginn Ihres Romans in einen Zug einsteigen, der ihn auch wieder an die Front bringen soll.

Heinrich Böll: Als sie unten durch die dunkle Unterführung schritten, hörten sie den Zug oben auf den Bahnsteig rollen, und die sonore Stimme im Lautsprecher sagte ganz sanft: „Fronturlauberzug von Paris nach Przemysl über.

Der Zug war pünktlich Le train était à l’heure, Collection Folio Bilingue, Gallimard, 1993, S.9

Orelie: Andreas wird von einnem Kaplan begleitet und da auch Sie ein gläubiger Katholik sind, weist Ihre Hauptperson von Anfang an autobiographische Züge auf.

Heinrich Böll: „Warum steigst du nicht ein?” fragte der Kaplan ängstlich den Soldaten. „Wie?” fragte der Soldat erstaunt,„ich kann mich ja unter die Räder schmeißen wollen…ich kann ja fahnenflüchtig werden…wie?

Der Zug war pünktlich, S.10

Orelie: Herr Böll, Sie sind ein entschiedener Kriegsgegner, und so bekommt das Wort Bald in Ihrem Roman einen tiefen Sinn. Dieses Wort will Andreas nicht aus dem Kopf gehen, es begleitet ihn wie ein unerwünschter Gast. Es erschreckt ihn, da es ihm einredet, dass er an der Front sterben wird.

Heinrich Böll: Bald. Bald. Bald. Bald. Wann ist Bald? Welch ein furchtbares Wort: Bald. Bald kann in einer Sekunde sein, Bald kann in einem Jahr sein. Bald ist ein furchtbares Wort. Dieses Bald drückt die Zukunft zusammen, es macht sie klein, und es gibt nichts Gewisses, gar nichts Gewisses, es ist die absolute Unsicherheit. Bald ist nichts und Bald ist vieles. Bald ist alles. Bald ist der Tod.

Der Zug war pünktlich, S.18

Orelie: Andreas kann sich von dem Bald, das er sich bewusst gemacht hat, nicht mehr befreien.

Heinrich Böll: Alles ist da, und alles hat morgens ein anderes Gesicht, alles ist glanzloser und alles ist zwecklos, und es wäre schön, wenn morgens auch dieses Bald erloschen wäre, dieses jetzt sehr bestimmte, sehr gewisse Bald. Aber dieses Bald ist da, es ist immer gleich da, als habe es sprungbereit gewartet; seitdem er das Wort ausgesprochen hat, liegt es auf ihm wie ein zweites Gesicht.

Der Zug war pünktlich, S.88

Orelie: Der Gedanke an den Krieg und an seinen baldigen Tod haben Andreas wehrlos gemacht, er hat keinen Mut mehr, selber etwas entscheiden zu wollen, denn er könnte ja versuchen zu fliehen, sobald der Zug an einem Bahnhof Halt macht.

Heinrich Böll: Ich bin voll Ungeduld, ich habe keine Angst, das ist das Seltsame, ich habe keine Angst, nur eine namenlose Neugierde und Unruhe. Und doch möchte ich nicht sterben. Ich möchte leben, theoretisch ist das Leben schön, theoretisch ist das Leben herrlich, aber ich möchte nicht aussteigen, seltsam, dass ich aussteigen könnte. Ich brauche nur durch den Gang zu gehen, das lächerliche Gepäck stehenzulassen und abzuhauen, irgendwohin, unter Bäumen spazierengehen, unter Herbstbäumen, und ich bleibe hier stehen wie aus Blei, ich will in diesem Zug bleiben, ich sehne mich schrecklich nach der Düsternis Polens und nach dieser unbekannten Strecke zwischen Lemberg und Czernowitz, wo ich sterben muss.

Der Zug war pünktlich, S.55-56.

Orelie: Diese Trostlosigkeit, die von Schnaps, Zigaretten und Kartenspielen ausgefüllt ist, teilt Andreas mit zwei Kumpeln, dem Unrasierten und dem Blonden. Auch die Augen eines Mädchens, in die er in Frankreich in einem winzigen Dorf bei Amiens geblickt hat, können ihn nicht wirklich trösten.

Heinrich Böll: Es ist wohl möglich, doch nicht wahrscheinlich, dass die eine noch an mich denkt; sie kann nicht mehr an mich denken. Eine Zehntelsekunde haben unsere Augen ineinander geruht, vielleicht noch weniger als eine Zehntelsekunde, und ich kann ihre Augen nicht vergessen. Dreiundeinhalb Jahre lang hab ich an sie denken müssen und hab sie nicht vergessen können. Nur eine Zehntelsekunde lang oder weniger, und ich weiß nicht, wie sie heißt, nichts weiß ich, nur ihre Augen kenne ich, sehr sanfte, fast blasse, traurige Augen von einer Farbe wie dunkelgeregneter Sand.

Der Zug war pünktlich, S.76

Orelie: Den lang ersehnten Trost findet er in einem Bordell, in das ihn der Unrasierte, dessen wirklicher Name Willi ist, mitnimmt. Dort lernt er Olina kennen, eine polnische Partisanin und Spionin, die wie er neunzehnhundertundzwanzig geboren ist. Seltsamerweise kann sie trotz allem, was ihr seit Kriegsbeginn widerfahren ist, Andreas nicht hassen.

Heinrich Böll: „Der Krieg kam neunzehnhundertneununddreißig. In Warschau wurden meine Eltern unter den Trümmern unseres großen Hauses begraben, und ich stand allein da im Garten des Konservatoriums, wo ich poussiert hatte, und der Direktor wurde verschleppt, weil er Jude war. Und ich, ich hatte einfach keine Lust mehr, Klavier zu lernen. Die Deutschen hatten uns alle irgendwie vergewaltigt, alle, uns alle.” Sie trinkt Kaffee, auch er nimmt einen Schluck. Sie lächelt ihn an.

Der Zug war pünktlich, S.244-246

Orelie: So ist Ihr Roman eine Anklage gegen den Krieg, weil in diesem die Unschuldigen leiden und sterben, was sie bildhaft am Ende Ihres Romans beschreiben.

Heinrich Böll: Mein Gott, denkt Andreas, sind sie denn alle tot?… und meine Beine…meine Arme, bin ich denn nur noch Kopf…ist denn niemand da…ich liege auf dieser nackten Straße, auf meiner Brust liegt das Gewicht der Welt so schwer, dass ich keine Worte finde, zu beten… und in diesem fahlen Dämmer, der noch ohne die gelbe Milde der Sonne ist, sieht er nun, dass Olinas Hand über seinem Kopf von einem Bruchstück des Wagens herunterhängt und dass Blut von ihren Händen auf sein Gesicht tropft, und er weiß nicht mehr, dass er selbst nun wirklich zu weinen beginnt.

Der Zug war pünktlich, S.314

Orelie: Herr Böll, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

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