Interview: Dostojewski – Der Traum eines lächerlichen Menschen

Christa, 30 novembre 2019

Orelie: Guten Tag Herr Dostojewski, ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch. Wir wollen über Ihre Erzählung Der Traum eines lächerlichen Menschen sprechen, in dem Sie Ihre Religiosität zum Ausdruck bringen. So gibt es einen Ich-Erzähler, der sich einen lächerlichen Menschen nennt. Als junger Mann schmerzte es ihn, lächerlich zu sein und dass die anderen sich über ihn lustig machten. Es war ihm peinlich, seine Lächerlichkeit den anderen gegenüber zu bekennen. Doch mit zunehmendem Alter begegnete er dieser Eigenschaft mit Gleichgültigkeit und nicht nur dieser, sondern der ganzen Welt mitsamt ihren Menschen. Alles war ihm egal, seitdem er eines Abends einen Flecken am Himmel sah. Wir wollen gemeinsam dieses für ihn entscheidende Ereignis weiterverfolgen.

Fjodor Dostojewski: Auf einmal bemerkte ich in einem dieser Flecken ein Sternchen und begann es aufmerksam zu betrachten. Das tat ich deshalb, weil dieses Sternchen mir einen Gedanken eingab: Ich beschloss, mir in dieser Nacht das Leben zu nehmen. Dasselbe hatte ich schon zwei Monate vorher fest beschlossen, mir trotz meiner Armut einen schönen Revolver gekauft und ihn gleich an jenem Tag geladen. Ich hatte zwei Monate hindurch jede Nacht, wenn ich nach Hause kam, gedacht, dass ich mich erschießen müsste. Ich wartete immer auf einen günstigen Augenblick. Und da gab mir nun dieses Sternchen den Gedanken ein, und ich beschloss, dass es unbedingt in dieser Nacht geschehen solle.

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Orelie: Doch in dem Augenblick und er schaute dabei zu dem Sternchen, fasste ihn ein etwa achtjähriges Mädchen an. Das Kind zitterte vor Kälte und war völlig durchnässt. Der Mann begriff, dass die Mutter des Kindes im Sterben lag oder ihr sonst etwas Schlimmes widerfahren war. Deshalb war das Mädchen so verzweifelt und bat ihn flehentlich um Hilfe. Der Mann stand nun, wie es jedem Menschen in seinem Leben passiert, vor einer Entscheidung. Half er der Kleinen?

Fjodor Dostojewski: Ich folgte ihr nicht; im Gegenteil, mir kam auf einmal der Gedanke, sie wegzujagen. Zuerst sagte ich, sie solle sich einen Schutzmann suchen. Aber sie faltete bittend die Händchen, lief schluchzend und atemlos immer neben mir her und wich nicht von mir. Und da stampfte ich mit den Füßen und schrie sie an. Sie rief nur: „Ach, Herr, ach Herr!”, aber plötzlich verließ sie mich und rannte, so schnell sie konnte, über die Straße; dort war ein anderer Passant sichtbar geworden, und sie lief offenbar zu ihm hin.

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Orelie: Die Begegnung mit dem Mädchen löste bei dem Mann Empfindungen aus, die ihn nie zuvor so stark bewegt hatten. Und wessen wurde er sich bewusst?

Fjodor Dostojewski: Warum fühlte ich denn nun auf einmal, dass mir nicht alles egal war und ich das kleine Mädchen bemitleidete. Mir war klar: Wenn ich ein Mensch und noch keine Null war und mich einstweilen noch nicht in eine Null verwandelt hatte, dass ich dann lebte und folglich imstande war, zu leiden, mich zu ärgern und über meine Handlungen Scham zu empfinden. Mir war klar, dass das Leben und die Welt gleichsam von mir abhingen.

A.a.O.

Orelie: So schreiben Sie zurecht, dass das kleine Mädchen dem Mann das Leben rettete, denn dank ihm, gingen ihm alle diese Gedanken im Kopf herum. Und als er weiter nachdachte, überkam ihn ein Traum, und in diesem schoss er sich tatsächlich in die Brust.

Fjodor Dostojewski: Ich hatte die Empfindung, als sei mit meinem Schuss alles in mir erschüttert und erloschen. Und plötzlich überraschte mich zum ersten Mal der Gedanke, dass ich ja gestorben war. Ich rief auf einmal mit meinem ganzen Wesen zu dem, nach dessen Herrscherwillen das alles mit mir vorging: „Wer du auch sein magst, aber wenn du bist und wenn etwas Vernünftigeres existiert als das, was sich jetzt vollzieht, so lass dieses Vernünftigere auch hier stattfinden.” So rief ich und verstummte dann. Und siehe da, auf einmal tat mein Grab sich auf. Ein dunkles, mir unbekanntes Wesen ergriff mich, und wir befanden uns plötzlich im Weltenraum. Schon längst sah ich die dem Auge bekannten Gestirne nicht mehr. Und plötzlich erschütterte mich ein bekanntes und im höchsten Grade angenehmes Gefühl; ich erblickte auf einmal unsere Sonne! Ich wusste, dass das nicht unsere Sonne sein konnte. „Du wirst alles sehen”, antwortete mein Gefährte, und eine gewisse Traurigkeit war aus dem Klang seiner Stimme herauszuhören. Aber wir näherten uns schnell dem Planeten. Mein Gefährte hatte mich schon verlassen. Ganz unmerklich war ich mit einem Mal auf dieser andern Erde im hellen Licht eines paradiesisch schönen, sonnigen Tages gelandet. Und endlich erblickte und erkannte ich die Menschen dieser glücklichen Erde. Ihre Gesichter strahlten von Verstand und abgeklärter Erkenntnis; diese Gesichter waren heiter; aus den Stimmen und Worten der Menschen klang eine kindliche Freude heraus. Oh, sofort, beim ersten Blick auf ihre Gesichter, verstand ich alles, alles! Das war nicht die durch den Sündenfall entweihte Erde; auf ihr lebten sündlose Menschen.

A.a.O.

Orelie: So lebte der Mann unter sündlosen Menschen. Aber was tat er, das Sie nicht verschweigen dürfen?

Fjodor Dostojewski: Ich habe es bisher verschwiegen; aber jetzt will ich auch diese Wahrheit aussprechen: Die Sache ist die, dass ich sie alle verdarb! Ich weiss nur, dass ich die Ursache des Sündenfalls war.

A.a.O.

Orelie: Der Mann brachte also die Lüge, die Eifersucht, den Hass, die Grausamkeit, das Verbrechen und alles Böse, das er auf der Erde, von der er kam, kannte, unter diese Menschen. Wie reagierten diese Menschen darauf?

Fjodor Dostojewski: Wenn es möglich gewesen wäre, dass sie zu dem verlorenen Zustand der Unschuld und des Glücks zurückgekehrt wären, und wenn sie jemand von neuem darauf hingewiesen und sie gefragt hätte, ob sie zu ihm zurückkehren wollten, so hätten sie diese Frage bestimmt verneint. Sie antworteten mir: „Mögen wir auch Lügner, Bösewichte und Ungerechte sein, wir wissen das und weinen darüber. Aber wir haben die Wissenschaft. Das Wissen steht höher als das Gefühl, die Erkenntnis des Lebens höher als das Leben.

A.a.O.

Orelie: Dennoch gab der Mann es nicht auf, ihnen klar zu machen, dass er an allem Schuld wäre. Hatte er Erfolg?

Fjodor Dostojewski: Sie lachten nur über mich und hielten mich schließlich für einen Halbverrückten. Sie verteidigten mich, indem sie sagten, sie hätten nur das empfangen, was sie sich selbst gewünscht hätten, und alles, was jetzt bestände, habe sich mit innerer Notwendigkeit so gestaltet. Zuletzt erklärten sie mir, ich würde ihnen gefährlich und sie würden mich ins Irrenhaus setzen, wenn ich nicht schwiege. Da wurde ich so vom Kummer übermannt, dass mein Herz sich zusammenzog und ich sterben zu müssen glaubte.

A.a.O.

Orelie: Und in diesem Moment erwachte der Mann aus seinem Traum. Er sah noch den Revolver vor sich liegen, aber er hatte sich verändert. Er wollte sich nicht mehr das Leben nehmen. Ihm war es nun wichtig zu leben und er wollte das kleine Mädchen ausfindig machen Und was wollte er von nun an verkündigen?

Fjodor Dostojewski: Angenommen, dass sich das nie verwirklichen wird und das Paradies unmöglich ist – nun, so werde ich trotzdem meine Lehre verkündigen. Die Hauptsache ist: Liebe die andern wie dich selbst. Dann wirst du sofort wissen, was du zu tun hast. Und dabei ist das ja nur eine alte Wahrheit, die billionenmal wiederholt und gelesen, aber doch den Menschen nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist! „Die Erkenntnis des Lebens steht höher als das Glück”, das ist die Anschauung, die bekämpft werden muss! Und ich werde sie bekämpfen.

A.a.O.

Orelie: Was hatte sich also für ihn verändert, seitdem er diese Wahrheit kannte, denn für Sie, Herr Dostojewski, kommt es auf die Innerlichkeit eines Menschen an. So kann ein Mensch nur aus seinen eigenen inneren Überzeugungen heraus diese Welt und ihre Menschen begreifen. Wie sah der Mann nun seine Mitmenschen?

Fjodor Dostojewski: Ich bin ein lächerlicher Mensch. Man nennt mich jetzt einen Verrückten. Das wäre eine Rangerhöhung, wenn ich nicht für die Leute immer noch ebenso lächerlich bliebe wie vorher. Aber jetzt ärgere ich mich nicht mehr darüber; jetzt sind sie mir alle lieb. Ich würde selbst mit ihnen lachen; nicht unbedingt über mich, sondern aus Liebe zu ihnen, wenn mir nicht bei ihrem Anblick so traurig ums Herz würde. Traurig deswegen, weil sie die Wahrheit nicht kennen; ich aber kenne die Wahrheit.

A.a.O.

Orelie: Herr Fjodor Dostojewski, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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