Interview: Sartre – Zeit der Reife

Christa, 28 avril 2014

reife

Orelie: Guten Tag, Herr Jean-Paul Sartre. Ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch, in dem wir über den ersten Band Ihrer Romantrilogie Die Wege der Freiheit sprechen wollen. Dieser Roman L’Âge de raison erschien auf Deutsch unter dem Titel Zeit der Reife. Der Protagonist Ihres Romans ist der Philosophielehrer Mathieu Delarue. Er ist vierunddreißig Jahre alt und hat sich bisher weder einer Aufgabe, noch einer Liebe voll hingegeben. Kann man sagen, er lebt nur in den Tag hinein?

Jean-Paul Sartre: Über tausend kleine alltägliche Sorgen hinweg wartete er; natürlich lief er dabei den Frauen nach, er reiste, außerdem musste er seinen Lebensunterhalt verdienen. Bei alldem aber war er einzig darauf bedacht gewesen, sich zur Verfügung zu halten. Für eine freie, überlegte Tat, die sein ganzes Leben binden und am Anbeginn einer neuen Existenz stehen sollte.

Jean-Paul Sartre, Zeit der Reife, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 1961, S.57

Orelie: Zu einer solchen freien Tat wird er herausgefordert, weil Marcelle, seine Geliebte, unerwartet schwanger geworden ist. Wie ist ihm zumute?

Jean-Paul Sartre: Marcelle war schwanger; es war nicht mehr derselbe Sommer. Sie schlief, ihr Körper badete in dicht belaubtem Schatten, er schwitzte im Schlaf. Ihre schönen, braunen, malvenfarbigen Brüste waren schlaff, Tröpfchen, hell und salzig wie Blüten, bildeten sich rund um ihre Warzen. Sie schläft. Das Bläschen in ihrem Bauch schläft nicht, hat keine Zeit zu schlafen: es nährt sich und wächst. Die Zeit verging mit harten, unwiderruflichen Stößen. Das Bläschen wuchs.

Zeit der Reife, S.54

Orelie: Er will das Kind  abtreiben lassen und das dafür benötigte Geld beschaffen, ohne dass er weiß, ob auch Marcelle einer Abtreibung zustimmen will. Seine Gefühle für Marcelle bringt er in einem Gespräch mit Daniel, einem Freund der beiden, zum Ausdruck. Was sagt er?

Jean-Paul Sartre: Ich lieb’ sie nicht mehr. Ich will sie nicht sitzenlassen. Um so schlimmer für mich. Es ist nicht ihre Schuld, wenn ich sie nicht mehr liebe. Außerdem häng’ ich an ihr; für mich wär’s verdammt ärgerlich, sie nicht mehr zu sehn. Nur entstehn dabei so was wie Familienbande.

Zeit der Reife, S.103-104

Orelie: Marcelle spricht ebenfalls mit Daniel über ihre Schwangerschaft. Was geht aus diesem Gespräch hervor?

Jean-Paul Sartre: Es war der entscheidende Moment; Daniel wiederholte streng: „Nicht wahr? Das Kind wollen Sie?” Marcelle stützte sich mit einer Hand aufs Kopfkissen und hatte die andere in den Schoß gelegt. Sie hob sie ein wenig an und legte sie auf ihren Bauch, als hätte sie Leibschmerzen; eine merkwürdig anziehende Bewegung. Sie sagte verloren: „Ja. Ich will das Kind.”

Zeit der Reife, S.176

Orelie: Am Ende erklärt sich Daniel, der homosexuell ist, bereit, die sitzengelassene Marcelle zu heiraten. Aber Mathieu fühlt sich deswegen keineswegs frei, denn er wurde durch Daniels Entscheidung seiner eigenen Freiheit beraubt. Was sagt er zu Daniel und was denkt er daraufhin?

Jean-Paul Sartre: „Du musst in einem komischen Zustand sein”, sagte er. „Ja, in einem komischen Zustand”, sagte Daniel. Mathieu sagte plötzlich:„Ich möcht’ an deiner Stelle sein.” „An meiner Stelle?” wiederholte  Daniel ohne sonderliche Überraschung. „Ja.” Daniel zuckte die Achseln und sagte: „In dieser Geschichte bist du in jeder Hinsicht der Gewinner. Du bist frei.” „Nein”, sagte Mathieu und schüttelte den Kopf. „Wenn man eine Frau verlässt, ist man noch nicht frei. Tatsächlich hab’ ich Marcelle umsonst verlassen. In dieser ganzen Geschichte bestand ich nur aus Ablehnung und Verneinung: Marcelle ist nicht mehr in meinem Leben, aber alles andere ist noch da.” Er wurde von Daniel förmlich gebannt. Er dachte: ‘Ist das die Freiheit? Er hat gehandelt: er kann jetzt nicht mehr zurück; es muss ihm seltsam vorkommen, hinter sich eine unbekannte Tat zu wissen, die er fast schon nicht mehr begreift und die sein Leben verändern wird. Alles, was ich tue, tu’ ich umsonst; als ob man mich um die Folgen meiner Taten bestähle; alles geht vorbei, als wenn ich meine Züge immer wieder zurücknehmen könnte. Ich weiß nicht, was ich alles für eine unmissverständliche Tat geben würde.’

Zeit der Reife, S.331-332

Orelie: Dieser Roman ist von einem sehr individualistischen Standpunkt der Freihei geprägt, den Sie in den folgenden Jahren aufgaben. An seiner Stelle traten die gesellschaftlichen Umstände als vorrangig in Ihre Blickweise. Was haben Sie hierauf zu sagen?

Jean-Paul Sartre: Nach dem Krieg kam dann die echte Erfahrung: die Erfahrung der Gesellschaft. Das heißt, der egoistische Vorkriegsindividualist musste gegen seinen Willen in die geschichtliche Wirklichkeit gestoßen werden, gleichzeitig aber gerade noch ja oder nein sagen können, damit er dann an die unentwirrbaren Probleme der Nachkriegszeit als jemand herangehen konnte, der ausschließlich durch seine gesellschaftliche Existenz bedingt ist, aber immer noch genügend Entscheidungsmöglichkeiten hat, um dieses Bedingtsein auf sich zu nehmen und dafür verantwortlich sein zu können. Denn ich habe niemals aufgehört zu zeigen, dass jeder letztlich dafür verantwortlich ist, was man aus ihm macht, selbst dann, wenn ihm nichts andres übrigbleibt, als diese Verantwortung auf sich zu nehmen. Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch immer etwas aus dem machen kann, was man aus ihm macht. Heute würde ich den Begriff Freiheit folgendermaßen definieren: Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem völlig gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt.

Jean-Paul Sartre, Sartre über Sartre, Aufsätze und Interviews 1940-1976, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1985, S.145

Orelie: Herr Sartre, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

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