Interview: Brandt~Kohl – Der Bau der Berliner Mauer

Christa, 19 janvier 2014

Orelie: Guten Tag, Herr Willy Brandt und Herr Helmut Kohl. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Wir wollen gemeinsam über den Bau der Berliner Mauer sprechen, der am 13. August 1961 in den frühen Morgenstunden begann. Sie, Herr Brandt, waren seit Herbst 1957 Regierender Bürgermeister der Stadt Berlin. Wie erhielten Sie persönlich Nachricht von diesen dramatischen Ereignissen?

Willy Brandt: Es war zwischen vier und fünf Uhr in der Frühe, der Wahl-Sonderzug aus Nürnberg hatte gerade Hannover erreicht, als ich geweckt wurde. Ein Bahnbeamter übergab eine dringende Mitteilung aus Berlin. Absender: Heinrich Albertz, Chef der Senatskanzlei. Inhalt: Der Osten schließe die Sektorengrenze. Ich möge umgehend nach Berlin zurückkehren.

Willy Brandt, Erinnerungen, Ullstein Verlag, November 2003, S.9

Orelie: Können Sie von Ihrer Ankunft in Berlin berichten, was bekamen Sie von dem Mauerbau mit?

Willy Brandt: Am Flughafen Tempelhof empfingen mich Albertz und Polizeipräsident Stumm. Wir fuhren zum Potsdamer Platz und ans Brandenburger Tor und sahen überall das gleiche Bild: Bauarbeiter, Hindernisse, Betonpfähle, Stacheldraht, Militärs der DDR. Im Rathaus Schöneberg entnahm ich den Meldungen, dass rings um die Stadt sowjetische Truppen in Bereitschaft gegangen seien und Walter Ulbricht den mauerbauenden Einheiten bereits gratuliert habe.

Erinnerungen, S.9

Orelie: Und Sie, Herr Kohl, wie ist Ihnen dieser Tag in Erinnerung geblieben?

Helmut Kohl: Der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus in Berlin, war für mich ebenso wie für viele andere Menschen in Deutschland ein Tag der Hoffnungslosigkeit und der tiefgreifenden Veränderung im geteilten Deutschland. Wir fragten uns, ob es jetzt überhaupt noch eine Chance für eine Wiedervereinigung geben würde.

Helmut Kohl, Erinnerungen 1930-1982, Vorentscheidung, Droemer, Amazon, Kindle

Orelie: Und wie beurteilen Sie Herrn Brandts Verhalten als Regierender Bürgermeister?

Helmut Kohl: Willy Brandt tat das, was in einer solchen Situation von einem führenden Politiker erwartet wird: Er war sofort zur Stelle, sprach zu den geschockten Berlinern, rief zur Besonnenheit auf und appelierte an die Vernunft und an die Verantwortung der Großmächte.

Erinnerungen 1930-1982, Vorentscheidung

Orelie: Konrad Adenauer war zur Zeit Bundeskanzler; was wollen Sie über seine Haltung während des Mauerbaus sagen?

Helmut Kohl: Die Reaktion des Bundeskanzlers auf den Beginn des Mauerbaus bleibt mir bis heute unverständlich. Dass sich Konrad Adenauer nicht unmittelbar nach den ersten Meldungen über das ungeheuerliche Vorgehen des Ost-Berliner SED-Regimes in die geteilte Stadt aufmachte, werde ich niemals nachvollziehen können. Ich bin mir heute allerdings nicht sicher, ob Adenauer bei seinem Verhalten nicht dem drängenden Rat der amerikanischen Regierung nachgab.

Erinnerungen 1930-1982, Vorentscheidung

Orelie: Und Sie, Herr Brandt, was können Sie über Konrad Adenauers Verhalten im Hinblick auf Berlin und den Mauerbau sagen?

Willy Brandt: Im „heidnischen” Berlin fühlte er sich nicht zu Hause. Dass dort und in Sachsen und sonstwo nicht „schwarz”, sondern eher „rot” gewählt wurde, mag hinzugekommen sein. Der Bundeskanzler hüllte sich in Schweigen. Ein amerikanischer Beobachter notierte später, in Bonn habe doppelte Furcht geherrscht: dass die Amerikaner schwach werden könnten und – dass sie festblieben! Wäre ich, in jenen sonntäglichen Vormittagsstunden des 13. August, kühleren Blutes gewesen, hätte ich bemerkt, dass die verehrten Herren Kommandanten verwirrt, hilflos, ohne Anweisung waren. Der Amerikaner ließ, mit bedenklicher Miene, durchblicken, was ihm aus Washington bedeutet worden war: Es dürfe auf keinen Fall zu unüberlegten Reaktionen kommen oder gar trouble gemacht werden, West-Berlin sei ja nicht unmittelbar bedroht.

Erinnerungen, S.10, 38

Orelie: Herr Kohl, hatte Adenauers Zögern für Sie direkte Folgen?

Helmut Kohl: Adenauer beging den Fehler, derweil seine Wahlkampagne fortzusetzen. Er reagierte viel zu spät öffentlich auf die dramatischen und folgenschweren Ereignisse in Berlin. Die Quittung ließ nicht lange auf sich warten. Wenige Wochen nach Vollendung des schändlichsten Bauwerks der Welt fanden Bundestagswahlen statt. Am 17. September 1961 verloren die Unionsparteien ihre bisherige absolute Mehrheit.

Erinnerungen 1930-1982, Vorentscheidung

Orelie: Und wie war Ihr persönliches Verhältnis zu der Stadt Berlin?

Helmut Kohl: Seit Ende der vierziger Jahre gehöre ich zu den eifrigen Besuchern Berlins. Als Student und später als Landtagsabgeordneter hielt ich mich immer mal wieder in der „Frontstadt” auf, wobei ich bis zum Mauerbau regelmäßig auch den Ostteil der Stadt besuchte. Im Hotel Schweizer Hof, direkt am Kurfürstendamm, war ich jahrelang Stammgast. Aber nicht nur dienstliche Verpflichtungen zogen mich nach Berlin. Hannelores besonderer Liebe zu der alten Reichshauptstadt ist es zu verdanken, dass wir zu vielen privaten Aufenthalten in Berlin waren. Damals entstanden langjährige Freundschaften über Parteigrenzen hinweg.

Erinnerungen 1930-1982, Vorentscheidung

Orelie: Herr Brandt, mit dem Bau der Berliner Mauer war auch der Viermächtestatus der Stadt verletzt worden. Wie gestalteten sich Ihre Zusammenarbeit und Absprachen mit der amerikanischen Regierung in diesen schweren und unsicheren Tagen?

Willy Brandt: Dass der Präsident der Vereinigten Staaten beizeiten informiert worden war, erfuhr ich später. Ihn interessierte, ob in West-Berlin alliierte Rechte verletzt worden seien. Nicht, ob Rechte, das ganze Berlin betreffend, in den Abfalleimer der Geschichte wanderten. Tatsächlich – die Erinnerungen seiner Mitarbeiter weisen es aus – war Präsident Kennedy umgetrieben von dem Gedanken an mögliche Kriegsfolgen. Am 16. August schrieb ich Präsident Kennedy von einem ernsten Einschnitt und einer tiefen Vertrauenskrise. Ich schlug vor, dass die amerikanische Garnison verstärkt, die Dreimächteverantwortung für West-Berlin hervorgehoben, dass die deutsche Frage nicht als erledigt betrachtet werde und das Thema Berlin vor die Vereinten Nationen komme. Kennedy ließ eine zusätzliche Kampfgruppe in die Stadt verlegen und stellte mir seine Antwort per Boten zu. Es war Lyndon B. Johnson, der am 19. August in der Stadt eintraf und mit texanischer Unbekümmertheit der Lage ihren Ernst zu nehmen suchte. In seinem Brief bekannte der Präsident freimütig: Ein militärischer Konflikt könne nicht in Betracht gezogen werden, und die meisten vorgeschlagenen Maßnahmen seien Beiläufigkeiten im Vergleich zu dem, was geschehen war.

Erinnerungen, S.10-11

Orelie: Der Bau der Mauer führte zu tragischen Vorfällen. Was können Sie hierzu sagen?

Willy Brandt: Inzwischen flossen viele Tränen. In meinem Weddinger Wahlkreis sprangen Menschen aus den Häusern direkt an der Sektorengrenze in die Sprungtücher der Feuerwehr, und nicht bei allen ging das gut ab.

Erinnerungen, S.11

Orelie: Worin bestanden für Sie, Herr Brandt, nun die dringendsten Aufgaben?

Willy Brandt: Vernünftig konnte nur sein, die Mauer durchlässig zu machen und die besonders lebensfeindlichen Lasten der Spaltung mildern und, wo möglich, überwinden zu helfen. Wo eine Wahl unausweichlich ist, muss das menschliche Wohl den Vorrang haben. Denn was gut ist für die Menschen im geteilten Land, ist auch gut für die Nation. Bei den kleinen Schritten ging es um Bodengewinn für Menschenrechte. In Berlin haben wir um Besuchserlaubnisse in dringenden Familienangelegenheiten hart ringen müssen.

Erinnerungen, S.64

Orelie: Und was war für Sie, Herr Kohl, von Vorrang?

Helmut Kohl: Die Teilung Deutschlands und der Mauerbau standen in absolutem Widerspruch zum Recht der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung und zum Recht eines jeden Menschen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.

Erinnerungen 1930-1982, Symbol der Unmenschlichkeit

Orelie: Während seines Deutschlandbesuchs im Jahr 1963 besuchte der amerikanische Präsident John F. Kennedy auch Berlin. Wie ist Ihnen Herr Kohl, Kennedys Besuch in Erinnerung geblieben.

Helmut Kohl: Bei seinem vielbeachteten Besuch in der Bundesrepublik und West-Berlin hatte er die Herzen der Deutschen erorbert. Weltweit bekannt wurde der Satz, den er der riesigen Menschenmenge vor dem Schöneberger Rathaus zurief: „Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt Westberlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: ‘Ich bin ein Berliner!’”

Erinnerungen 1930-1982, Vorentscheidung

Orelie: Herr Brandt, in Ihrem Amt als Regierender Bürgermeister von Berlin begrüßten Sie den amerikanischen Präsidenten am Flughafen Berlin-Tempelhof. Gemeinsam mit John F. Kennedy und Bundeskanzler Konrad Adenauer fuhren Sie in einem offenen Auto durch Westberlin. Was können Sie über Kennedys Besuch in dieser Stadt sagen?

Willy Brandt: Im Juni 1963 zog Kennedy, einem Triumphator gleich, in Berlin ein. Der Tag wurde der Höhepunkt von Kennedys Deutschland-Besuch und ein ganz großes Ereignis für die Stadt. In der Geschichte Berlins war solch ehrlicher Jubel noch keinem Gast zuteil geworden. Die Mauer stand seit bald zwei Jahren. Die Enttäuschung, dass der Verweis auf den so oft beschworenen Viermächtestatus sie nicht hatte verhindern können, saß immer noch tief. Aber an den für West-Berlin eingegangenen Verpflichtungen hatte es keinen Zweifel gegeben. In seiner berühmten Rede vor dem Schöneberger Rathaus pries Kennedy den Willen der Stadt zur Selbstbehauptung und wies zugleich auf Perspektiven eines gerechten Friedens hin. Den Augenblick vor der Kundgebung, da er lachend in meinem Amtszimmer die berühmten vier Worte – „Ich bin ein Berliner!” – einübte, werde ich nie vergessen.

Erinnerungen, S.70

Orelie: Wir wollen mit Kennedys Berlinbesuch unser Gespräch beenden, für das ich Ihnen beiden vielmals danke.

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