Interview: Camus~Rahner – Innerweltliche Zukunftsutopien

Christa, 21 septembre 2019

Orelie: Guten Tag, Herr Karl Rahner und Herr Albert Camus, ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch. Sie, Herr Rahner, legen In Ihrem Buch Zur Theologie der Zukunft klar, was unter der absoluten Zukunft zu verstehen ist. Und Sie, Herr Camus, erklären in Ihrem Buch Der Mensch in der Revolte, warum die Revolte notwendig ist und wodurch sie sich von der Revolution abgrenzt. Wir haben uns vorgenommen, hierauf näher einzugehen. Herr Rahner, was beinhaltet der Satz, dass das Christentum eine Religion der absoluten Zukunft ist?

Karl Rahner: Das Christentum hat als Religion der absoluten Zukunft keine innerweltliche Zukunftsutopie. Es erklärt zwar, dass die Entscheidung für den einzelnen Menschen mit seinem Tod gegeben sei, ob er sich durch die Tat seines Lebens der absoluten Zukunft Gottes geöffnet hat oder nicht. Aber hinsichtlich der kollektiven Geschichte der Menschheit als solcher hat es zunächst einmal keine Angabe, wie lange diese innerweltliche kollektive Geschichte dauert. Und hinsichtlich des materialen Inhaltes dieser Zukunft ist es ebenfalls neutral. Es stellt keine inhaltlich bestimmten Zukunftsideale auf, macht darüber keine Prognosen und verpflichtet den Menschen zu keinen bestimmten Zielen seiner innerweltlichen Zukunft. Wo eine Zukunft, die vom Menschen geplant und mit den Mitteln seiner verfügbaren Welt hergestellt werden sollte, als absolute Zukunft gesetzt würde, würde das Christentum eine solche Zukunftserwartung als utopistische Ideologie ablehnen.

Karl Rahner Zur Theologie der Zukunft, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, Mai 1971, S.153-154

Orelie: Was bedeutet diese Ablehnung für den Menschen?

Karl Rahner: Das Christentum schützt durch eine absolute Zukunftshoffnung den Menschen vor der Versuchung, die berechtigten innerweltlichen Zukunftsbestrebungen mit solcher Gewalt zu betreiben, dass jede Generation brutal zugunsten der nächsten und so fort geopfert wird und so die Zukunft zum Moloch wird, vor dem der reale Mensch für den nie wirklichen, immer ausständigen geschlachtet wird.

Zur Theologie der Zukunft, S.86-87

Orelie: Herr Albert Camus, sehen Sie auch diese Gefahr?

Albert Camus: Die absolute Revolution setzte tatsächlich die absolute Formbarkeit der menschlichen Natur voraus, ihre mögliche Rückbildung auf den Stand einer Geschichtskraft. Das rein geschichtliche Denken sagte: Sein ist Tun. Wir waren nicht, aber wir mussten mit allen Mitteln sein. Unsere Revolution ist ein Versuch, ein neues Sein zu erobern, durch das Tun, außerhalb jedes Moralgesetzes. Aus diesem Grund verurteilt sie sich dazu, nur für die Geschichte und im Terror zu leben. Der Mensch ist nach ihrer Ansicht nichts, wenn er nicht durch die Geschichte, freiwillig oder gezwungen, die einmütige Zustimmung erhält.

Albert Camus Der Mensch in der Revolte, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2006, S.281-282

Orelie: Sie beide lehnen deshalb jede innerweltliche Zukunftsideologie als eine Gefahr für den Menschen und die Gesellschaft ab. Ich bitte Sie, hierbei die Geschichte der Menschheit noch näher zu beurteilen.

Karl Rahner: Das Christentum kennt keine Geschichte, die aus ihrer inneren Dynamik heraus sich in das Reich Gottes selbst hinein entwickelt, ob man dieses Reich als Reich des aufgeklärten Geistes, der völlig zivilisierten Menschheit, der klassenlosen Gesellschaft oder immer konzipieren will. Das Christentum bestreitet, dass sich die Weltgeschichte auf den ewigen Frieden hin entwickelt, wenn dies auch nicht heißt, dass der Krieg, der immer sein wird, gerade mit Hellebarden oder Atombomben ausgetragen werden müsse. Das Christentum weiß, dass jeder Fortschritt in der Profangeschichte auch ein Schritt zur Möglichkeit größerer Gefährdungen und tödlicher Abstürze ist. Die Geschichte wird nie die Stätte des ewigen Friedens und des schattenlosen Lichtes sein, sondern das Land des Todes und der Finsternis, wenn dieses Dasein gemessen wird an dem absoluten Anspruch des Menschen, den zu stellen Gott dem Menschen die Möglichkeit, ja sogar die unausweichliche Pflicht schenkt.

Zur Theologie der Zukunft, S.24-25

Orelie: Herr Albert Camus, was wollen Sie sagen?

Albert Camus: Das Absolute wird nicht erreicht und vor allem nicht geschaffen durch die Geschichte. Die Geschichte kann nicht mehr zum Gegenstand des Kults erhoben werden. Sie ist nur eine Gelegenheit, die es gilt, durch eine wachsame Revolte fruchtbar zu machen. Diejenigen schließlich führen die Geschichte voran, die im gegebenen Moment sich auch gegen sie aufzulehnen wissen. Das geschichtliche Christentum verschiebt die Heilung vom Bösen und vom Mord, die doch in der Geschichte erlitten werden, ins Jenseits der Geschichte. Die weder in Gott noch in der Geschichte ihren Frieden finden, verurteilen sich dazu, für die zu leben, welche, wie sie, nicht leben können: die Gedemütigten.

Der Mensch in der Revolte, S.340-342

Orelie: Was wollen Sie Herr Rahner hierauf antworten?

Karl Rahner: Müssen christliche und nicht-christliche Humanisten Feinde sein? Mir scheint nicht, wenn beide Seiten begreifen, dass beide der Zukunft mehr verpflichtet sind als der Vergangenheit. Warum sollten beide also nicht zusammen die Zukunft planen, die beiden unbekannt ist? Warum das Geahnte an ihr: Gerechtigkeit, Freiheit, Würde, Einheit und Differenziertheit der Gesellschaft, nicht gemeinsam sich deutlicher machen?

Zur Theologie der Zukunft, S.147

Orelie: Und was können Sie hierbei zum dem Verhältnis zwischen der absoluten Zukunft und der machbaren Zukunft sagen?

Karl Rahner: Die Welt der machbaren Zukunft bleibt. Jeder inhaltlich bestimmte Humanismus ist relativ, kann anders werden und hat keine Verheißung bleibender Dauer. Was ist, wenn ein Mensch das Vertrauen in die absolute Zukunft als radikal ankünftige hat? Die wahre Zukunft, die letzte, die selbst unmachbar ist, geschieht ganz einfach, sie kommt auf uns zu, sie will sich selbst als das unbegreifliche Geheimnis uns mitteilen.

Zur Theologie der Zukunft, S.180-181

Orelie: Herr Camus, was möchten Sie noch sagen?

Albert Camus: Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben. Die Revolte beweist dadurch, dass sie die Bewegung des Lebens selbst ist und dass man sie nicht leugnen kann, ohne auf das Leben zu verzichten. Ihr Aufschrei lässt jedesmal ein Wesen sich erheben. Die ehrlose Revolution, die Revolution der Berechnung, die, indem sie einen abstrakten Menschen demjenigen von Fleisch und Blut vorzieht, das Sein verleugnet, sooft es nötig ist, stellt genau an die Stelle der Liebe das Ressentiment. Und schon kann die Revolte in der Tat, ohne zu behaupten, alles lösen zu können, wenigstens die Stirne bieten.

Der Mensch in der Revolte, S.343

Orelie: Herr Albert Camus und Herr Karl Rahner, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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