Interview: Émile Bernard – Besuche bei Paul Cézanne

Christa, 16 décembre 2018

Orelie: Guten Tag, Herr Émile Bernard, ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Sie sind ein Bewunderer Paul Cézannes und nennen ihn Ihren Meister und Lehrer. Bevor Sie Cézanne begegnet sind, haben Sie einen Essay über ihn in der Zeitschrift Les Hommes d’aujourd’hui veröffentlicht. Seine Bilder sahen Sie zum ersten Mal in einem kleinen Laden in der rue Clauzel in Paris, wo Werke von ihm, als er noch völlig unbekannt war, ausgestellt waren. Sie gingen gerne in diesen von Julien Tanguy geführten Laden und betrachteten Cézannes Arbeiten. Warum war es schwer, mit Cézanne in Kontakt zu kommen?

Émile Bernard: Was seine Person betrifft, so schien sie völlig unnahbar, verloren im staubigen Widerschein der südlichen Sonne in Aix. Alles, was man damals von ihm wusste, wurde vom alten Tanguy berichtet, dem guten und großzügigen Bretonen, dessen Laden in jener Zeit die einzige Zuflucht für die Malerei der Zukunft war.

Gespräche mit Cézanne, Diogenes Verlag, Zürich, 1982, S.69

Orelie: Sie entschlossen sich zwanzig Jahre später, das heißt im Jahr 1904, Ihren Meister endlich in seiner Vaterstadt Aix zu besuchen. Cézanne war zu der Zeit einer bekannter Maler, war es daher leicht für Sie gewesen, ihn zu finden?

Émile Bernard: Ich war recht besorgt, denn ich kannte weder die Adresse von Paul Cézanne, noch kannte ich jemanden, der sie mir hätte mitteilen können. Zwar hatte ich angenommen, dass ein Maler, der in Paris schon ziemlich berühmt war, in seiner Heimat einigermaßen bekannt sein müsste. Es gab in der Trambahn, während der Fahrt von Marseille nach Aix, keinen Menschen, den ich nicht unter das Kreuzfeuer meiner Fragen nahm. Diese waren immer die gleichen: „Wohnen Sie in Aix? Schon lange? Kennen Sie dort einen großen, in Paris heute berühmten Maler, den Stolz seiner Vaterstadt: Paul Cézanne?“ Aber die Antwort blieb negativ. Selbst in Aix kannte niemand oder schien zum mindesten niemand Paul Cézanne zu kennen. Schon gab ich die Hoffnung auf, als ein Arbeiter stehenblieb. Ich richtete meine Frage an ihn, aber er konnte mir keine bessere Auskunft geben als die andern. Dann aber besann er sich und sagte: „Schlimmstenfalls können Sie auf das Bürgermeisteramt gehen.“ Ich bedankte mich bei dem intelligenten Mann und begab mich zum Bürgermeisteramt von Aix. Dort erfuhr ich sofort, dass Cézanne Paul am 19. Januar 1839 in Aix en Provence geboren sei und dass er Rue Boulegon 25 wohne.

Gespräche mit Cézanne, S.71-73

Orelie: Ich nehme an, Sie machten sich sogleich auf den Weg in die Rue Boulegon. Wie fühlten Sie sich, als Sie dann vor Cézannes Haus standen?

Émile Bernard: Endlich sollte mein zwanzig Jahre lang gehegter Wunsch in Erfüllung gehen! Ich läutete vorsichtig. Die Tür öffnete sich von selbst, und ich trat in einen hellen, freundlichen Korridor, durch dessen Fenster man in einen sonnigen Garten und auf efeuüberwucherte Mauern sah. Eine breite Treppe lag vor mir. Ich begann sie zu ersteigen. Kaum hatte ich aber die ersten Stufen betreten, als mir ein Greis gerade von vorne um eine Treppenbiegung entgegenkam. Er trug eine weite Pelerine und hatte eine Art Jagdtasche. Ich fragte: „Monsieur Paul Cézanne, bitte?“ Da trat er einen Schritt zurück, richtete sich gerade auf, zog tief seinen Hut und sagte, indem er mir ein kahles Haupt und Gesicht eines alten Generals zuwendete: „Da ist er! Was wünschen Sie von ihm?“

Gespräche mit Cézanne, S.73

Orelie: Danach machten Sie beide sich auf den Weg zu einem auf einer Anhöhe außerhalb von Aix stehenden Haus, in dem sich Cézannes Atelier befand. Sie traten gemeinsam in ein großes Zimmer, in dem Sie auf einen alten Wandschirm aufmerksam wurden.

Émile Bernard: Der Wandschirm war aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzt, die mit mächtigem Laubwerk und ländlichen Szenen und hie und da mit Blütenwerk bemalt waren. Eine geschickte, vielleicht italienische Hand hatte das Möbel geschmückt.

Gespräche mit Cézanne, S.75

Orelie: Nach diesem ersten Besuch kamen Sie häufig bei Cézanne in Aix vorbei, und eines Tags sahen Sie auch sein Zimmer. Was für einen Eindruck machte dieses auf Sie?

Émile Bernard: In diesem Zimmer sah ich etwas Schönes, und zwar ein Blumenaquarell von Delacroix. Es war eingerahmt und war, um das Verblassen der Farbe durch die Einwirkung des Lichtes zu verhüten, gegen die Wand gekehrt, aber mit der Hand bequem zu erreichen. Cézannes Zimmer war sehr einfach, groß und hell. Das Bett befand sich in einem Alkoven. Mitten an dessen Wand war ein Kruzifix angebracht.

Gespräche mit Cézanne, S.90

Orelie: Was stellten Sie während Ihrer häufigen Besuche fest?

Émile Bernard: Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Cézanne jedes Mal, wenn er in einer Anwandlung ungewöhnlicher Generosität an die andern dachte, sich selbst ganz vergaß. Cézanne war manchmal so zerstreut, dass er mit offener Weste draußen umherging. Am Sonntag besuchte er mit den besten Kleidern angetan die Messe. Aber es passierte ihm oft, dass er den Hemdkragen mit einem Bindfaden befestigen musste, da er den Knopf verloren hatte. Sein Hut hatte trotz einiger rascher Bürstenstriche romantische Beulen, und sein Überrock zeigte da und dort Farbflecke. Bei Tisch war er sehr aufgeräumt, von einer Fröhlichkeit, die ich nicht bei ihm vermutet hätte, von einer herzlichen, in ihrer aufrichtigen Gutmütigkeit und ihrer ungezwungenen Hingebung fast altmodischen Fröhlichkeit. In solchen Momenten konnte man den Menschen kennenlernen, unabhängig vom Maler, und seine ganze Güte sehen.

Gespräche mit Cézanne, S.86-87

Orelie: Können Sie von einem solchen Essen berichten, bei dem Cézanne seine heitere Art offen zeigte?

Émile Bernard: Wir begaben uns nach der Rue Boulegon. Madame Brémond war eifrig damit beschäftig, das Essen zu bereiten. Ich wurde von Cézanne seinem Sohn Paul und Madame Cézanne vorgestellt. Die Mahlzeit verlief sehr fröhlich, Cézanne war ungemein mitteilsam. Die Gegenwart seines Sohnes bereitete ihm großes Vergnügen. Er hielt alle Augenblicke mit dem Essen inne, um ihn zu betrachten.

Gespräche mit Cézanne, S.102

Orelie: Herr Bernard, was möchten Sie abschließend über Cézanne, Ihren Freund und Meister, sagen?

Émile Bernard: Die Zeit, sich andern Dingen als seiner Kunst zu widmen, hatte ihm gefehlt. Und diese Arbeitslust stellte sich so stark ein, dass er von ihr plötzlich wie von einem Abgrund verschlungen wurde. Als ich eines Abends vom Chef-d’œuvre inconnu, dem Unbekannten Meisterwerk, und von Frenhofer, dem Helden des Dramas von Balzac sprach, erhob er sich vom Tisch, stellte sich vor mich hin, klopfte mit dem Zeigefinger an seine Brust und bekannte sich durch mehrfache Wiederholung dieser Geste, ohne ein Wort zu sagen, zu der Person des Romans. Er war so ergriffen, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Einer, der ihm im Leben zeitlich vorangegangen war, der aber einen prophetischen Geist besaß, hatte ihn verstanden. Als ich später über Cézanne in L’Occident schrieb, setzte ich als Motto folgenden Satz hin, der Cézanne zusammenfassend gut charakterisiert und ihn mit dem Helden Balzacs verschmilzt: „Frenhofer ist ein Mensch, der sich auf leidenschaftliche Weise unserer Kunst hingibt, der höher und weiter sieht als die übrigen Maler.”

Gespräche mit Cézanne, S.87-88

Orelie: Herr Émile Bernard, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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