Interview: Arendt – Eichmann in Jerusalem

Christa, 22 octobre 2013

P1020050

Orelie: Guten Tag, Frau Hannah Arendt. Ich heiße Sie herzlich willkommen zu diesem Gespräch. Sie nahmen 1961 als Berichterstatterin für die Zeitschrift The New Yorker an dem in Jerusalem stattfindenden Prozess gegen Adolf Eichmann teil. Sie plädierten für das Todesurteil und seine Vollstreckung, weil der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann millionenfachen Mord am jüdischen Volk zu verantworten hatte. Aus Ihren Aufzeichnungen während der Verhandlungen entstand Ihr Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, woraufhin der Vorwurf gegen Sie erhoben wurde, dass es unannehmbar sei, die von Eichmann begangenen Verbrechen als « banal » zu bezeichnen.

Hannah Arendt: Es handelt sich darum, dass das Böse ein Oberflächenphänomen ist und nicht darum, dass es « banalisiert » wird oder verharmlost. Das Gegenteil ist der Fall. Entscheidend ist, dass vollkommen durchschnittliche Leute, die von Natur weder böse noch gut waren, ein so ungeheuerliches Unheil anrichten konnten.

Hannah Arendt, Wahrheit gibt es nur zu Zweien, Briefe an die Freunde, Piper Verlag, München 2013, S.291

Orelie: So ist nicht das von Eichmann begangene Böse banal, sondern die Tatsache, dass er das Böse tat, ohne darüber nachzudenken.

Hannah Arendt: Eichmann hat prinzipiell ganz gut gewusst, worum es ging, und in seinem Schlusswort vor Gericht von der « staatlicherseits vorgeschriebenen Umwertung der Werte » gesprochen; er war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist -, die ihn dafür prädisponierte , zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. Und wenn dies « banal » ist und sogar komisch, wenn man ihm nämlich beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann, so ist es darum doch noch lange nicht alltäglich.

Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen , Piper Verlag, München Zürich, März 2013, S.57

Orelie: Aber das Gericht in Jerusalem sah in ihm einen Lügner.

Hannah Arendt: Die Richter hatten zwar recht, als sie dem Angeklagten bei der Urteilsverkündung sagten, alles, was er vorgebracht habe sei « leeres Gerede » gewesen, aber sie glaubten – zu Unrecht -, dass diese Leere vorgetäuscht war und dass der Angeklagte dahinter Gedanken zu verbergen wünschte, die zwar abscheulich, aber nicht leer waren. Dagegen spricht schon die verblüffende Konsequenz, mit der Eichmann trotz seines eher schlechten Gedächtnisses Wort für Wort die gleichen Phrasen und selbsterfundenen Klischees wiederholte, wann immer die Rede auf Dinge oder Ereignisse kam, die ihm wichtig waren. Was er sagte, war stets das gleiche, und er sagte es stets mit den gleichen Worten. Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, dass diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen.

Eichmann in Jerusalem, S.125-126

Orelie: Die von Eichmann gebrauchten Schlagworte, Klischees und Phrasen klangen nach Auswendiggelerntem. Seine starke Unpersönlichkeit ging mit einem blinden Gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten einher.

Hannah Arendt: Ja, es war noch nicht einmal ein Fall von wahnwitzigem Judenhaß, von fanatischem Antisemitismus oder von besonderer ideologischer Verhetzung. Was die niedrigen Motive betraf, so war er sich ganz sicher, dass er nicht „seinem inneren Schweinehund” gefolgt war; und er besann sich ganz genau darauf, dass ihm nur eins ein schlechtes Gewissen bereitet hätte: wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre und Millionen von Männern, Frauen und Kindern nicht mit unermüdlichem Eifer und peinlichster Sorgfalt in den Tod transportiert hätte. Mit diesen Versicherungen sich abzufinden war nicht ganz einfach.

Eichmann in Jerusalem, S.99,98

Orelie: Der Staatsanwalt wollte allerdings beweisen, dass Eichmann aus niedrigsten Beweggründen seine Verbrechen begangen hatte.

Hannah Arendt: Trotz der Bemühungen des Staatsanwalts konnte jeder sehen, dass dieser Mann kein « Ungeheuer » war, aber es war in der Tat sehr schwierig, sich des Verdachts zu erwehren, dass man es mit einem Hanswurst zu tun hatte. Und da dieser Verdacht das ganze Unternehmen ad absurdum geführt hätte und auch schwer auszuhalten war angesichts der Leiden, die Eichmann und seinesgleichen Millionen von Menschen zugeführt hatten, sind selbst seine tollsten Clownerien kaum zur Kenntnis genommen und fast niemals berichtet worden.

Eichmann in Jerusalem, S.132

Orelie: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, das Sie während des Prozesses miterlebt haben?

Hannah Arendt: Was sollte man mit einem Mann anfangen, der erst mit großem Pathos erklärte, dass er eines immerhin im Leben gelernt hätte, nämlich dass man niemals einen Eid schwören dürfe, und der dann, nachdem man ihm ausdrücklich gesagt hatte, dass er als Zeuge in eigener Sache « unter Eid oder ohne Vereidigung » aussagen dürfe, ohne Umschweife erklärte, er wolle lieber unter Eid aussagen?

Eichmann in Jerusalem, S.132-133

Orelie: Auch war Eichmann, was die Befehle seiner Vorgesetzten und den Führerbefehl betrafen, in seinem Handeln niemals unentschlossen gewesen. Er beteuerte immer wieder, dass er nur Befehle ausführte.

Hannah Arendt: Eichmann hatte hartnäckig daran festgehalten, bei der Begehung der Verbrechen, deren er angeklagt war, nur „Beihilfe und Vorschub” geleistet, aber selbst nicht gemordet zu haben. Was das Urteil über diesen Punkt zu sagen hatte, war mehr als korrekt, es war die Wahrheit.

Eichmann in Jerusalem, S.363

Orelie: Die Anklage berief sich hierbei auf den Paragraphen 23 des israelischen Strafkodex. Können Sie die für Sie entscheidenden Sätze der Anklage zitieren?

Hannah Arendt: Falls wir seine Handlungen in der Sprache des Paragraphen 23 unseres Strafkodex kennzeichnen wollen, so waren alle in ihrem Wesen Anstiftungshandlungen, Erteilung von Ratschlägen und Anweisungen an andere wie auch Hilfeleistungen an andere oder Ermöglichung der Handlungen anderer. Aber in diesem gigantischen und weitverzweigten Verbrechen, an dem viele Personen in verschiedenen Befehlsstufen und in verschiedenen Tätigkeitsausmaßen teilgenommen haben, ist es nicht zweckmäßig, die üblichen Begriffe des Anstifters und Gehilfen in Anwendung zu bringen. Die gegenständlichen Verbrechen sind ja Massenverbrechen, nicht nur, was die Zahl der Opfer anlangt, sondern auch in bezug auf die Anzahl der Mittäter, so dass die Nähe oder Entfernung des einen oder des anderen dieser vielen Verbrecher zu dem Manne, der das Opfer tatsächlich tötet, überhaupt keinen Einfluss auf den Umfang der Verantwortlichkeit haben kann. Das Verantwortlichkeitsausmaß wächst vielmehr im allgemeinen, je mehr man sich von demjenigen entfernt, der die Mordwaffe mit seinen Händen in Bewegung setzt.

Eichmann in Jerusalem, S.363-364

Orelie: Der Religionsphilosoph Martin Buber sah in dem Todesurteil gegen Eichmann einen Fehler, dem Sie jedoch nicht zustimmen.

Hannah Arendt: Martin Buber nannte die Hinrichtung einen „Fehler geschichtlichen Ausmaßes”, da sie „dazu führen könne, dass viele junge Menschen in Deutschland, die sich schuldig fühlen, ihre Schuld nun als gesühnt betrachten.” Es gibt nur sehr wenige Menschen, die imstande sind, wirklich begangenes Unrecht einzusehen – von Reue und Scham ganz zu schweigen. Das ist nicht so einfach. Von allen Seiten und in allen Bereichen ist die deutsche Jugend heute mit Männern konfrontiert, die in Amt und Würden, in maßgeblichen Positionen und öffentlichen Stellungen das Gesicht des Landes bestimmen und in der Tat sich einiges haben zuschulden kommen lassen, ohne sich offenbar schuldig zu fühlen.

Orelie: Deswegen bestürzte es Sie, dass Willy Brandt nach dem Krieg, aufgrund seiner Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus, von bundesdeutschen Politikern immer wieder diffamiert wurde.

Hannah Arendt: Was Eichmanns Entstellungen der Realität so grauenhaft macht, sind die grauenhaften Dinge, um die es sich handelte – im Prinzip unterscheiden sie sich aber nur unwesentlich von Auffassungen, die man im Nach-Hitler-Deutschland hören kann. Man braucht sich z. B. nur daran zu erinnern, dass 1961, im Jahr der Bundestagswahlen, der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß einen – allem Anschein nach recht erfolgreichen – Angriff gegen Willy Brandt, der in der Hitlerzeit nach Norwegen emigriert war, in Form folgender rhetorischer Frage lancierte: „Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.” Soviel ich weiß, hat niemand dem Minister damals entgegengehalten, dass es mittlerweile doch wohl aktenkundig geworden ist, was Deutsche in Deutschland in jenen zwölf Jahren getan haben.

Eichmann in Jerusalem, S.136-137

Orelie: Sie erinnern in Ihrem Buch auch an einen Menschen, der Juden half und deswegen hingerichtet wurde. Sie nennen den Feldwebel Anton Schmid, der in dem Jerusalemer Gerichtssaal von dem Zeugen Abba Kovner, der dem jüdischen Widerstand angehörte, erwähnt wurde. Nachdem die Wehrmacht Litauen besetzt hatte, stellte Anton Schmid gefälschte Arbeitsbescheinigungen für Juden aus, ohne dafür Geld zu verlangen. Mitgliedern des jüdischen Widerstands besorgte er falsche Papiere und versorgte sie mit Lastwagen der Wehrmacht. Er wurde von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und am 13. April 1942 erschossen.

Hannah Arendt: Während der wenigen Minuten, die Kovner brauchte, um über die Hilfe eines deutschen Feldwebels zu erzählen, lag Stille über dem Gerichtssaal; es war, als habe die Menge spontan beschlossen, die üblichen zwei Minuten des Schweigens zu Ehren des Mannes Anton Schmid einzuhalten. Es wäre von größtem praktischen Nutzen für Deutschland, nicht nur für sein Prestige im Ausland, sondern für eine Wiedererlangung des inneren Gleichgewichts, wenn es mehr derartige Geschichten zu erzählen gäbe. Denn die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, dass unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht. So wie die Lehre, die man aus den Ländern im Umkreis der „Endlösung” ziehen kann, lautet, dass es in der Tat in den meisten Ländern „geschehen konnte”, aber dass es nicht überall geschehen ist. Menschlich gesprochen ist mehr nicht vonnöten und kann vernünftigerweise mehr nicht verlangt werden, damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können.

Eichmann in Jerusalem, S.345,346-347

Orelie: Frau Hannah Arendt, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

,