Interview: Henry Dunant – Das Rote Kreuz

Christa, 14 juillet 2018

Orelie: Guten Tag, Herr Henry Dunant, ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch. Wir wollen darüber sprechen, wie es zu den ersten Anfängen einer Organisation kam, aus der das Rote Kreuz hervorging. Hierbei werden wir uns auf Ihr Buch Eine Erinnerung an Solferino stützen, in dem Sie Ihre Erinnerungen an diese kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Armee Österreichs und den Truppen von Sardinien-Piemont und Frankreich festhielten. Was führte Sie im Jahr 1859 nach Solferino?

Henry Dunant: Als einfacher Tourist, und dem Zweck dieses großen Kampfes vollkommen ferne stehend, hatte ich, durch besondere Umstände begünstigt, das seltene Vorrecht, bei dem ergreifenden Schauspiele zugegen zu sein. Ich will übrigens nur meine persönlichen Eindrücke wiedergeben.

Henry Dunant, Eine Erinnerung an Solferino, Aischines Verlag, Paderborn, 1. Auflage,S.5

Orelie: Was waren sehr bald Ihre ersten persönlichen Eindrücke?

Henry Dunant: Um jeden Mamelon, um jeden Hügel, um jeden Felsvorsprung werden hartnäckige Kämpfe geliefert, ganze Haufen von Toten sind auf den Hügeln, in den Hohlwegen aufgetürmt. Österreicher und Alliierte töten einander auf den blutigen Leichnamen, sie morden sich mit Kolbenschlägen, zerschmettern sich das Gehirn, schlitzen sich mit Säbeln und Bajonetten die Leiber auf: Kein Pardon wird mehr gegeben, es ist ein Gemetzel, ein Kampf wilder, wütender, blutdürstiger Tiere, und selbst die Verwundeten verteidigen sich bis zum Äußersten; wer keine Waffen mehr besitzt, fast seinen Gegner an der Gurgel und zerfleischt ihn mit den Zähnen.

Eine Erinnerung an Solferino, S.7

Orelie: Wo auch immer Sie hinkamen, war es immer das gleiche Gemetzel?

Henry Dunant: Dort findet ein ähnlicher Kampf statt, allein er wird noch schrecklicher durch das Nahen einer Eskadron Kavallerie, welche im Galopp heransprengt; die Pferde zertreten unter ihren Hufen Tote und Sterbende; einem armen Verwundeten wird die Kinnlade zerrissen, einem andern die Hirnschale zerschmettert, einem Dritten, der noch zu retten gewesen wäre, die Brust eingetreten.

Eine Erinnerung an Solferino, S.7

Orelie: Vernahmen Sie auch Schreie diese Entsetzens?

Henry Dunant: In das Wiehern der Pferde mischen sich Flüche, Schmerzens- und Verzweiflungsrufe und Wutgeschrei. Inmitten dieser verschiedenartigen, sich stets wieder erneuernden und unaufhaltsam fortdauernden Kämpfe vernimmt man die fluchenden Ausrufe von Männern von so vielerlei Nationen, und wie viele dieser Leute waren schon mit dem 20. Lebensjahre zum Menschenmorden gezwungen!

Eine Erinnerung an Solferino, S.7,S.14

Orelie: Die Ortschaft Solferino und ihre Umgebung sahen düster und verlassen aus, überall zeigten sich die entsetzlichen Spuren des Krieges. Können Sie diese beschreiben?

Henry Dunant: Zu der Umgebung von Solferino und besonders bei dem Kirchhofe des Ortes lagen massenweise Gewehre, Patronentaschen, Gamaschen, Tschakos, Dienstmützen, Käppis, Gürtel, kurz alle Arten von Monturstücken umher, darunter selbst zerfetzte und blutbefleckte Kleidungsstücke und zertrümmerte Waffen. Die Unglücklichen, welche während des Tages aufgeladen wurden, waren bleich, eingefallen, vollkommen erschöpft: Die Einen, und insbesondere die arg Verstümmelten, schauten scheinbar stumpfsinnig drein, sie verstanden nicht, was man zu ihnen sagte, ihre Augen blickten stier ihre Retter an, aber dennoch zeigten sie sich nicht unempfindlich für ihre Schmerzen; andere waren unruhig, ihr ganzes Nervensystem zeigte sich erschüttert und sie zuckten konvulsivisch zusammen. Derjenige, welcher diesen ausgedehnten Schauplatz des Kampfes vom vorigen Tage durchwanderte, traf auf jedem Schritte und inmitten einer Verwirrung ohne Gleichen unaussprechliche Verzweiflung und Elend in allen Gestalten.

Eine Erinnerung an Solferino, S.21-22

Orelie: In der Stadt Brescia wurden die Verwundeten versorgt; können Sie darüber berichten?

Henry Dunant: Diese hübsche, so recht malerisch gelegene Stadt war in ein ungeheuer ausgedehntes Spital umgewandelt, ihre zwei Domkirchen, die übrigen Kirchen, die Paläste, die Klöster, die Schulen, die Kasernen, kurz alle Gebäulichkeiten waren mit Schlachtopfern von Solferino angefüllt; 15.000 Betten waren sozusagen in einem einzigen Tage aufgeschlagen worden. Das Volk drängte sich in Masse herbei, und besonders die Frauen jeden Ranges, um Orangen, Gallerte, Biskuit, Zuckerwerk und sonstige Erfrischungen zu bringen. Der Stadtrat von Brescia hatte alsogleich die ihm obliegenden Verpflichtungen erkannt, welche er bei diesem außergewöhnlichen Ereignisse zu erfüllen hatte, und zeigte sich auf die Dauer seiner Aufgabe auf das Vollkommenste gewachsen.

Eine Erinnerung an Solferino, S.45-46

Orelie: Nicht nur diesen Frauen und dem Stadtrat von Brescia, sondern vielen anderen Helfern sprechen Sie in Ihren Erinnerungen Ihre Hochachtung aus und bringen dabei Ihre Meinung zu den kriegerischen Vorgängen deutlich zum Ausdruck.

Henry Dunant: Der General-Intendant von Brescia, der Direktor der Spitäler dieser Stadt, der Chef-Arzt der sardinischen Armee und der Sanitäts-Inspektor der Lombardei wetteiferten in der Hingebung für die Kranken und Verwundeten und ihre Namen verdienen auf die ehrenvollste Weise genannt zu werden. Wir könnten noch eine ganze Reihe mutiger und ausdauernder Chirurgen nennen, welche sich nicht minder verdient machten; denn es ist jedenfalls gewiss, dass wenn jene, welche töten, auf Ruhm Anspruch machen, auch diejenigen einer rühmenden Erwähnung und die Achtung und Erkenntlichkeit ihrer Mitmenschen verdienen, welche, und zwar oft genug mit Gefahr ihres Lebens, heilen.

Eine Erinnerung an Solferino, S.54

Orelie: Was mussten Sie dennoch, trotz dieser menschlichen Hingabe und den anstrengenden lobenswerten Hilfeleistungen, feststellen?

Henry Dunant: Hätte nicht trotz dem Eifer, den die lombardischen Städte und die Einwohner von Brescia an den Tag legten, noch ungeheuer vieles getan werden können? In keinem Kriege und in keinem Jahrhunderte hatte man so viele schöne Beweise von Barmherzigkeit gesehen; und doch reichten dieselben durchaus nicht aus bei so vielen Leidenden, welche eine Unterstützung in Anspruch nahmen, und außerdem galt auch die meiste Sorgfalt nur der alliierten Armee und durchaus nicht den Österreichern. Und die Krankenwärter und sonstigen Bediensteten entsprachen nicht auf lange Zeit den an sie gestellten Anforderungen. Man muss deshalb freiwillige Krankenwärter und Krankenwärterinnen haben, welche gewandt, vorbereitet oder eingeweiht sind, um bei einem solchen Hilfswerke tätig sein zu können.

Eine Erinnerung an Solferino, S.68-69

Orelie: Sie riefen daher zu der Schaffung eines solchen Hilfswerkes auf, an wen wandten Sie sich hierbei?

Henry Dunant: Es handelt sich darum, einen Aufruf, eine Bitte an die Männer aller Länder und jeden Ranges ergehen zu lassen, von den Mächtigen dieser Welt bis zu den ärmsten Arbeitern; denn alle können auf die eine oder andere Weise und jeder in seiner Art und nach seinen Kräften bei dieser guten Tat mitwirken. Ein Aufruf dieser Art würde den Frauen ebenso gut als den Männern gelten.

Eine Erinnerung an Solferino, S.69

Orelie: Ihr Aufruf wurde erhört und ging in Erfüllung. 1863, ein Jahr nach der Veröffentlichung Ihrer Schrift Erinnerungen an Solferino wurde in Genf das Internationale Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege gegründet, das seit 1876 den Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz trägt. Mit welchen Worten rufen Sie in Ihren Erinnerungen zu der Schaffung dieses großen Werkes auf?

Henry Dunant: In einer Zeit, in welcher man so viel von Fortschritt und Zivilisation spricht und in welcher die Kriege einmal nicht immer vermieden werden können, ist es da nicht dringend notwendig, alles zu tun, um den Schrecken derselben zuvorzukommen? Um dieses Werk zur Ausführung zu bringen, ist ein hoher Grad von Hingebung vonseiten einer gewissen Anzahl von Personen nötig, aber sicherlich würde es bei dieser Gelegenheit an den notwendigen Geldmitteln nicht fehlen.

Erinnerungen an Solferino, S.71

Orelie: Herr Henry Dunant, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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