Interview: Arendt~Sartre – Die Neue Linke

Christa, 8 novembre 2015

neuelinke

Orelie: Guten Tag, Frau Hannah Arendt und Herr Jean-Paul Sartre, ich freue mich, dass Sie beide zu diesem Gespräch gekommen sind. Wir haben uns vorgenommen, über die Neue Linke und die 68er Bewegung zu sprechen. Was können Sie, Frau Arendt, als erstes über diese Generation sagen?

Hannah Arendt: Das Pathos und der Elan der Neuen Linken, das, was ihr Glaubwürdigkeit verleiht, hängen aufs Engste zusammen mit der unheimlichen, selbstmörderischen Entwicklung der modernen Waffen. Dies ist die erste Generation, die im Schatten der Atombombe aufgewachsen ist. Von der Generation ihrer Väter hat sie die Erfahrung des Verbrecherstaats, des massiven Einbruchs der Kriminalität in die Politik, geerbt; sie weiß Bescheid über Konzentrations- und Vernichtungslager, über Völkermord, Folter und Terror, über die Massaker der Zivilbevölkerung im Kriege.

Hannah Arendt, Macht und Gewalt, Piper Verlag, München, Juni 2013, S.17-18

Orelie: Und welche Art von Reaktionen gab es in den USA?

Hannah Arendt: Die erste Reaktion war Abscheu gegen Gewalt in all ihren Formen, ein fast selbstverständliches Eintreten für eine Politik der Gewaltlosigkeit. Die Widerstandsbewegung gegen den Krieg in Vietnam, die in beträchtlichem Ausmaß das Klima der öffentlichen Meinung in Amerika bestimmt hat. Auch sie war in den Anfangsstadien prinzipiell gewaltlos.

Macht und Gewalt, S.18

Orelie: Die Studentenbewegung war weltweit, wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

Hannah Arendt: Wenn man fragt, was denn nun eigentlich diese gänzlich unvorhergesehene Entwicklung an den Universitäten in der ganzen Welt ausgelöst hat, kann man nicht gut übersehen, dass eine Erfahrung dieser Generation in der Tat überall gemeinsam ist – die Erfahrung, dass gerade der „Fortschritt” in mancherlei Hinsicht das Leben auf der Erde katastrophal bedroht. Mit diesen „Fortschritten”, beziehungsweise ihren wissenschaftlichen Grundlagen, werden sie an den Universitäten vertraut gemacht. Bei der neuen Generation haben wir es mit einer Menschengruppe zu tun, der die unheimlich destruktiven Tendenzen des rasanten technischen „Fortschritts” der letzten Jahrzehnte in Fleisch und Blut sitzen.

Macht und Gewalt, S.20-21

Orelie: Herr Sartre, gibt es für Sie eine grundlegende Unterscheidung zwischen den USA und Frankreich?

Jean-Paul Sartre: Ich bin immer der Meinung gewesen, dass die Mai-Bewegung vom Vietnam-Krieg verursacht worden ist. Für die französischen Studenten, die den Mai-Aufstand auslösten, bedeutete der Vietnam-Krieg nicht nur eine Parteinahme für die Nationale Befreiungsfront und das vietnamesische Volk gegen den amerikanischen Imperialismus. Bis dahin hatte man es nicht für möglich gehalten, dass die Vietnamesen der riesigen amerikanischen Kriegsmaschine standhalten, ja sie sogar besiegen könnten. Aber gerade das haben sie getan und damit den französischen Studenten und anderen eine ganz neue Perspektive eröffnet: Sie wussten jetzt, dass es Möglichkeiten gab, die bisher unbekannt waren. Nicht dass alles möglich war, aber dass man nur das als unmöglich erklären kann, was man versucht hat und womit man gescheitert ist. Das war eine entscheidende, folgenreiche und für den Westen revolutionäre Entdeckung.

Sartre über Sartre, S.162

Orelie: Auf welche Weise änderte der Mai 1968 Ihre Haltung gegenüber der Kommunistischen Partei Frankreichs?

Jean-Paul Sartre: 1968, ja, das war wichtig. Für jeden. Aber für mich ganz besonders, denn letztlich hatte ich mich den Kommunisten genähert, weil es vor 1968 links von ihnen nichts gab, außer den Trotzkisten, die im Grunde nur unglückliche Kommunisten waren. Solange zum Beispiel die Kommunistische Partei die größte Konservative Partei Frankreichs bleibt und solange sie das Vertrauen der Arbeiter hat, wird es keine Möglichkeit geben, die freie Revolution zu machen, die im Mai gescheitert ist.

Sartre über Sartre, S.214,162

Orelie: Sie befürworteten, dass Studenten und Arbeiter in den Unternehmen gemeinsam miteinander arbeiteten. Können Sie erläutern, wie dies konkret verwirklicht werden sollte?

Jean-Paul Sartre: Ich habe nie gesagt, dass alle Intellektuellen in die Fabrik gehen sollten. Ich sagte, sie sollten ihre Widersprüche überwinden, indem sie versuchen, andere Mittel des Engagements als die Unterzeichnung von Petitionen und das Schreiben von Artikeln für andere Intellektuelle zu finden. Betriebsarbeit war nur eines dieser Mittel. Und denjenigen Intellektuellen, die in die Betriebe gingen, ist es nicht schlecht bekommen.

Sartre über Sartre, S.218

Orelie: Was brachte die Neue Linke zum Ausdruck?

Jean-Paul Sartre: Die Mai-Bewegung war Ausdruck einer radikalen Infragestellung der etablierten Werte von Universität und Gesellschaft und eines Entschlusses, sie als bereits tot zu betrachten.

Sartre über Sartre, S.161

Orelie: Frau Arendt, welche Art von Ursachen lassen sich aufzeigen, um die Forderungen der Studenten nach einem radikalen Umbruch der bestehenden Werte erklären zu können?

Hannah Arendt: Man hat alle nur erdenklichen sozialen und psychologischen Gründe für ihr Verhalten gefunden – in Deutschland oder Japan soll natürlich die zu autoritäre Erziehung an allem schuld sein, in Amerika dagegen das Fehlen derselben; in Osteuropa die Freiheitsberaubung, im Westen hingegen ein Übermaß an Freiheit; in Frankreich der verhängnisvolle Mangel an Arbeitsplätzen für Soziologiestudenten, in Amerika wiederum die bis vor kurzem unbegrenzten Möglichkeiten für Soziologen, Psychologen und Politologen, die darum nicht weniger rebellisch waren als ihre Kollegen in Europa. Da es sich hier um ein weltweites Phänomen handelt, können die Ursachen, auch wenn sie jeweils noch so plausibel erscheinen, nicht gut lokaler Natur sein. Einen gemeinsamen sozialen Nenner gerade scheint es nicht zu geben, aber psychologisch fällt doch auf, dass diese Generation überall sich durch gewisse Eigenschaften auszeichnet: sie ist ungewöhnlich mutig, sie hat Lust am Handeln und besitzt auch, wenigstens in Ländern mit politischer Tradition, einige Erfahrung darin und verfügt über einen vorläufig noch nicht aufgebrachten Vorrat an Vertrauen in die Möglichkeit, durch Handeln die Welt zu verändern.

Macht und Gewalt, S.18-19

Orelie: Können Sie dieses Handeln anhand von konkreten Beispielen veranschaulichen?

Hannah Arendt: Die Lust am Handeln lässt sich besonders bei kleineren und relativ harmlosen Unternehmungen feststellen. Es gab erfolgreiche Studentenstreiks gegen schlechte Bezahlung der unteren Arbeiter und Angestellten an den Universitäten – sie erhielten weniger als das gesetzliche Minimum. Der Beschluss der Studenten von Berkeley mitzuhelfen, um ein unbenutztes Universitätsgelände in einen „Volkspark” zu verwandeln, gehört zu diesen Unternehmungen, obwohl dies gerade die bisher brutalste Reaktion der Obrigkeiten hervorgerufen hat. Nach den Vorfällen in Berkley zu urteilen, scheinen derartige „unpolitische” Aktionen besonders geeignet, die Studentenschaft zu veranlassen, sich einmütig hinter eine radikale Vorhut zu stellen.

Macht und Gewalt, S.19

Orelie: Und wie beurteilen Sie die feststellbare Anwendung von Gewalt zur Umsetzung ihrer Forderungen?

Hannah Arendt: Gewalt, im Gegensatz zu dem, was ihre Propheten uns glauben machen wollen, ist erheblich geeigneter, Reformen zu erzwingen als Revolutionen auszulösen. Ohne die Studentenkrawalle an der Sorbonne hätte Frankreich sich schwerlich zu radikalen Reformmaßnahmen seines veralteten Universitätssystems entschlossen; ohne die schweren Studentenunruhen in New York hätte niemand im Traum daran gedacht, dass die Columbia Universität auch nur reformbedürftig sei. Und da Gewalttätigkeit und Krawalle nur für kurzfristige Ziele sinnvoll eingesetzt werden können, ist es, wie wir in Amerika reichlich Gelegenheit haben zu beobachten, immer noch wahrscheinlicher, dass sich die Obrigkeit zur Erfüllung offensichtlich unsinniger und auf die Dauer sehr gefährlicher Forderungen entschließen wird, nur weil sie sich leicht und schnell durchführen lassen – wie die Aufnahme unqualifizierter Studenten und die Einrichtung blödsinniger Kurse -, als dass die Taktik der Gewalt notwendige, aber langfristige Reformen erreicht.

Macht und Gewalt, S.78-79

Orelie: Herr Sartre, wie beurteilen Sie im Nachhinein den Mai 1968?

Jean-Paul Sartre: Meiner Ansicht nach war die Mai-Bewegung die erste umfassende soziale Bewegung, die für kurze Zeit etwas verwirklicht hat, was der Freiheit nahekommt, und die davon ausgehend versucht hat, zu begreifen, was reale Freiheit ist. Aus dieser Bewegung sind Menschen hervorgegangen – ich zähle mich dazu -, die zu dem Schluss kamen, dass man nun versuchen muss, positiv zu beschreiben, was das ist: Freiheit, verstanden als politisches Ziel. Denn letztlich, was verlangten sie denn, die im Mai 68 auf die Barrikaden stiegen? Nichts, zumindest nichts Bestimmtes, was das System ihnen hätte geben können.

Sartre über Sartre, S.216

Orelie: Und wie haben Sie die 68er persönlich erlebt?

Jean-Paul Sartre: Der Mai 68 ist ohne mein Zutun gekommen, ich hatte sein Kommen nicht einmal bemerkt. Dann, nach 1968, um 1969, habe ich mich den Jungen, oder einigen von ihnen, genähert und hatte weiterhin ein junges Publikum.

Sartre über Sartre, S.195

Orelie: Herr Jean-Paul Sartre und Frau Hannah Arendt, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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